Medikamentenmangel: Lage könnte sich im Herbst wieder verschlechtern

Stand: 27.09.2023 17:11 Uhr

Apotheker fordern Lösungen gegen den Medikamentenmangel. Besonders bei Kindermedikamenten wie Antibiotikasäften könnte es im Herbst wieder Engpässe geben, warnten Experten bei NDR Info live. Kurzfristig helfen könnte vor allem eine bessere Vernetzung der Apotheken.

Wer am Mittwoch ein Medikament aus der Apotheke gebraucht hat, stand auch im Norden teilweise vor verschlossenen Türen. Viele Apotheken hatten von 13 Uhr bis 16 Uhr geschlossen - aus Protest gegen immer mehr Bürokratie und hohe Arbeitsbelastung. Dafür sorgen auch die Lieferengpässe bei Medikamenten. Ein Problem, auf das die Apothekerinnen und Apotheker konkrete Antworten fordern. Unter anderem von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der am Mittwoch beim Deutschen Apothekertag in Düsseldorf gesprochen hat.

Lauterbach: Strukturreform soll Apothekenschließungen verhindern

Um den Medikamentenmangel zu beheben und auch vermehrte Schließungen von Apotheken zu verhindern, stellte Lauterbach einige Eckpunkte seiner angestrebten Strukturreform vor. Ein wichtiges Ziel ist es, die Gründung von Filialapotheken zu erleichtern. Dort muss nach den Vorstellungen Lauterbachs dann kein Apotheker mehr vor Ort sein. Stattdessen könne die Beratung per Tele-Pharmazie aus der Mutterapotheke erfolgen, sagte der Minister. Auch Laboreinrichtungen müssten dort nicht mehr vorhanden sein. Öffnungszeiten könnten flexibler gehandhabt werden.

Für seine Vorschläge wurde der online zugeschaltete Minister allerdings von den Apothekerinnen und Apothekern in Düsseldorf ausgebuht. Die Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), Gabriele Overwiening, übte scharfe Kritik. Als erster Bundesgesundheitsminister sei der SPD-Politiker offenbar bereit, "das Apothekensystem, das unsere Bevölkerung seit Jahrzehnten sicher versorgt, gänzlich zu zerstören".

Arzneimittel fehlen - Apotheker fordern Lösungen

Um sich die Rede des Gesundheitsministers anhören zu können, hatten viele Apotheken ihre Türen zwischenzeitlich geschlossen. Auch Janna-Luise Dickmann aus dem niedersächsischen Wittmund hat Lauterbachs Auftritt im Internet verfolgt. Ihre Apotheke schloss sie nach 25 Jahren Selbstständigkeit im Februar endgültig. Zu viel Arbeit, zu wenig Personal - "das wollte ich nicht länger mitmachen", sagt sie. Inzwischen arbeitet sie als Vertretung in unterschiedlichen Apotheken im Norden und erlebt überall die gleichen Probleme.

Engpässe aus dem vergangenen Herbst könnten sich wiederholen

Hunderte Medikamente seien nicht lieferbar, darunter Fiebersaft und Antibiotika für Kinder, aber auch Präparate gegen Diabetes oder Krebs. Passenden Ersatz zu finden, koste Zeit. Und die Patienten stünden im schlimmsten Fall mit leeren Händen da. "Wir verwalten den Mangel. Rabattverträge haben ein früher gut funktionierendes System kaputt gespart", meint Dickmann. Und wenn die Erkältungssaison demnächst starte, befürchte sie das Schlimmste. "Der Nachschub an Antibiotikasäften für Kinder stockt schon wieder!" Besonders bei Kindermedikamenten sei wieder mit ähnlichen Engpässen zu rechnen wie im vergangenen Herbst, sagte Dickmann bei NDR Info live. "Apotheken und der Großhandel befinden sich in der gleichen Bredouille."

Als Teillösung bei akuten Engpässen schlug Dickmann vor, Stellen einzurichten, die für eine bessere Verteilung und für mehr Transparenz sorgen. Somit könnten Apotheken sehen, wo das benötigte Präparat in der Region möglicherweise noch verfügbar sei. Bei einigen Apotheken sei dies sogar bereits jetzt über Apps möglich.

Medikamentenmangel im Norden

Deutschland sei für Hersteller gerade nicht attraktiv, sagte Reinhard Strametz, Professor für Patientensicherheit an der Hochschule RheinMain bei NDR Info live. In anderen Ländern ließen sich für bestimmte Medikamente höhere Preise aufrufen. Auch Produktionsprobleme könnten schnell einen Mangel hervorrufen, denn für einige Wirkstoffe gebe es nur noch wenige Hersteller, oft in Asien. Wenn es dort ein Problem gebe, brächen ganze Lieferketten zusammen. "Kritische Medikamente müssen wir auch wieder in Deutschland oder zumindest in Europa produzieren", meint er. Man dürfe sich nicht abhängig machen. Doch die Produktion zu verlagern, werde dauern und Geld kosten. "Zehn Jahre, 100 Milliarden Euro", schätzte der Experte.

Regelmäßige Kontrollen des eigenen Vorrats

Da die Wiederansiedlung der Pharmaindustrie in Europa eher ein mittelfristiger Prozess sei, müsse zunächst geschaut werden, welche Medikamente besonders kritisch und begrenzt verfügbar sind, damit diese wieder in Teilmengen in Europa produziert werden könnten, sagte Strametz. Auch teilflexible Produktionsstätten, die bei Engpässen kurzfristig hochgefahren werden könnten, seien wichtig für die Zukunft.

Für Patientinnen und Patienten, die dauerhaft auf Medikamente angewiesen sind, empfahl Strametz regelmäßig den Bestand zu kontrollieren und frühzeitig, wenn noch einige Tabletten vorhanden sind, Nachschub zu bestellen. Das nütze jedoch nichts, wenn beispielsweise das Krebsmedikament bis zu drei Monate nicht lieferbar sei. "Das ist dann eine erhebliche Gefährdung der Patientensicherheit", sagte Strametz.

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | NDR Info | 27.09.2023 | 15:00 Uhr

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