Godfather und Deutschlands Fußballbuben
Alle Welt ist damit beschäftigt, Zeichen zu setzen. Meistens steckt eine gute Absicht dahinter, nicht immer klappt es. Und bei der FIFA Fußball-WM? Ulrich Kühn antwortet in seiner Kolumne.
Ein bisschen komisch hat es schon ausgeschaut, wie sich die deutschen Fußballbuben plötzlich ihre Münder zuhielten, oder? So was sieht man nicht alle Tage. Bestimmt werden sich Scharen von Schülerinnen und Schülern über das Foto beugen: "Beschreibe in deiner Bildanalyse, was die Männer in den kurzen Hosen tun und warum." Da ist guter Rat dann so teuer wie die irre WM von Katar. Ja, was tun sie da? Zeigen sie, dass sie erschrocken sind? Doch, ja, man sieht es deutlich.
Aber warum erschrecken sie denn? Meine erste Vermutung: Sie haben den leibhaftigen Infantino erblickt, Godfather, den Oberboss aller Anti-Doppel-Moralisten, der als Bub wegen seines roten Haars gemobbt wurde und dann so intensiv reifte, dass ihn jetzt keiner mehr mobbt - ihn, den Bußprediger der kommenden 3000 Jahre, der, unbestechlich die katarischen Verhältnisse preisend, der sündigen Menschheit den Spiegel vorhält; diesen makellos Mächtigen, der unseren Buben droht, sie würden bei Tragen der "One-Love"-Binde mit Liebesentzug durch die FIFA bestraft oder sogar mit dem Schiedsrichterpfiff, was einer sensiblen Generation von Zauberfüßen mehr Angst bereitet als selbst die Trennung von der Influencerin, die ihnen daheim das schmale Budget für Brot, Wasser und Eiweißriegel aufbessert. Das war, in etwa, mein erster Gedanke.
Geste des DFB-Teams ist nicht zu unterschätzen
Auf den zweiten Blick wurde klar: Nein, die gucken gar nicht erschrocken. Die gucken zutiefst erstaunt. Ja, und worüber staunen sie denn? Über die Überwindung ihrer Mutlosigkeit. Darüber, dass es gar nicht so schwierig war, ein kleines "Zeichen zu setzen" - weil sie, anders als die Fußballer des Iran, die tapfer bei ihrer Hymne schwiegen, nichts Schlimmes befürchten müssen. Klar, die Binde zu tragen, das ging nicht, es war immerhin ihr Kindheitstraum, einmal bei der WM zu kicken - das hat Thomas Müller erklärt, der circa zum 50. Mal bei einer WM kicken darf. So was setzt man nicht aufs Spiel.
Aber mal ganz im Ernst: Man soll diese Geste nicht unterschätzen. Andere, die auch vor der FIFA in die Knie gingen, haben die verbotene Binde weggelassen und stattdessen gar nichts getan. Das war dann ddoch recht dürftig. Und weil das alles so gekommen ist, führen wir hierzulande eine lebendige und höchst nötige Diskussion darüber, was das Setzen von Zeichen wert ist und was zutage tritt, wenn es unterbleibt.
Verlockender Gedanke
Denn natürlich war der Gedanke verlockend, dass alle, die angekündigt hatten, mit der Binde aufzulaufen, es trotz Verbot auch wirklich getan hätten; dass dann serienweise Gelbe und Rote Karten verteilt worden wären; und dass die besten Mannschaften Europas auf diese Weise nach und nach aus dem Turnier geflogen und abgereist wären: Die düpierte FIFA wäre exakt der Scherbenhaufen geworden, zu dem sie den Weltfußball längst gemacht hat. Und Godfather Gianni wäre auf das Kleinformat geschrumpft, das seinen Charakter so präzise bezeichnet. Herrlich!
Aber halt nur im Konjunktiv. Denn so ist sie nicht, die turbokapitalistische Welt des Fußballs mit ihren hehren Bekenntnissen zum Schönen, Wahren, Guten. Man sieht es jetzt überdeutlich. Und so ist sie auch im Ganzen nicht, diese unsere Welt, die so kraftvoll "Moral! Moral!" ruft und gegen die Doppelmoralischen schäumt, die immer nur die anderen sind.
Zweites Zeichen im Spiel gesetzt
Soweit das Offensichtliche. Die deutsche Mannschaft hat aber noch ein zweites, stilles Zeichen gesetzt, im Spiel gegen Japan, ab der 60. Minute. Als zeichenkundiger Kulturmensch sage ich Ihnen: Das war die glasklare Drohung, an dieser irren Weltmeisterschaft nicht einen Tag länger teilzunehmen als unvermeidlich. Und wenn der Infantino das erst begreift - dann dankt der weinend ab.