NachGedacht: Die postbriefstellerische Freudlosigkeit
Immerzu schlechte Nachrichten aus der Wirtschaft: Konkurse hier, Massenentlassungen da. Da geht’s nicht nur um Zahlen; da geht’s um Mentalitäten, fürchtet Alexander Solloch.
Menschheitsgeschichte erzählen wir uns gewohnheitsmäßig als Fortschrittsgeschichte. Wie auf einer schnurgeraden Linie führt der Weg vom frühmittelalterlichen Glauben an Krankheit als unabwendbares Gottesurteil hin zur lebensrettenden Computertomographie in unseren glorreichen Zeiten. Aber wenn wir dann sehen, dass der Mensch an sich nicht in der Lage ist, Schritt zu halten mit seinen Entdeckungen und Erfindungen, weil er immer wieder in seine alten Muster zurückfällt aus Dummheit, Lüge und Gewalt, und wir außerdem im Quellenstudium staunend feststellen, dass früher, vor fünfzig Jahren, ein Brief von Hamburg nach New York innerhalb von zwei Tagen am Ziel war, während wir heute schon froh wären, wenn eine Postkarte von Hannover nach Braunschweig bloß eine Woche benötigte - dann wird klar, dass die Geschichte nicht voranschreitet, sondern besoffen vor und zurück torkelt.
Post: Schrumpfkur statt Freude
Nun hat die Deutsche Post angekündigt, bis zum Jahresende 8.000 Stellen zu streichen - mit dem üblichen Wortgeklingel der organisierten Freudlosigkeit: Man wolle sich "schlanker und effizienter" aufstellen, heißt es. Wer das schon einmal selbst versucht hat, weiß, dass das nur mit allergrößtem Verdruss verbunden sein kann. Und tatsächlich spielt sich diese schreckliche Schlankheitskur ausschließlich in den spaßbefreiten Zonen des Lebens ab, die im Namen des Fortschritts immer größer werden.
Wir entwickeln Künstliche Blödheit, die uns davon abhalten soll, künftig noch selbst Texte zu schreiben, obwohl es kaum Beglückenderes gibt, als aus sich selbst zu schöpfen und Worte aufs Papier zu setzen, die auf einmal das Tanzen anfangen, einen Tanz, den keine KI je zu imitieren vermag. Doch wenn wir überhaupt noch irgendetwas schreiben, dann allenfalls das vermeintlich Nötigste, ohne Zierrat, ohne Abschweifung, natürlich auch ohne Komma. Ohne Freude. Ohne Frühling.
Die verlorene Kunst des Schreibens
"Ich schicke einen Brief hinaus in die Welt an Irgendeinen, der vielleicht gar nicht an mich denkt. Aber ich, ich will ihn grüßen um seiner Abende willen, da er am geöffneten Fenster vor traurigen Häuserschächten steht, um jenes ersten Flieders willen, der ihm auf fremden Balkonen blüht." Mascha Kaléko nannte diesen Text wohlweislich "Brief ins Blaue", nicht "WhatsApp ins Blaue".
Aber die Deutsche Post macht vor allem einen "deutlich beschleunigten Rückgang der Briefmengen" für ihre Verschlankungsidee verantwortlich. Wir schreiben keine Briefe mehr, keine ins Blaue und keine an die beste Freundin. Wir rauben uns und anderen damit nicht nur eine große Freude, sondern auch die uns eigentlich - vermöge unserer Fähigkeiten - angeborene Unsterblichkeit.
Künftige Biografen sind aufgeschmissen
Wenn wir der Nachwelt keine Briefe hinterlassen, wird man eines Tages nichts mehr von uns wissen. Was wir an Kenntnissen haben über die großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte, haben wir vor allem aus den Briefen, die sie schrieben, die sie erhielten, die von ihnen erzählten. Künftige Biografen werden aufgeschmissen sein, wenn sie feststellen müssen, dass ihre Protagonisten sich vor allem per Mail oder über Messengerdienste mitgeteilt haben und diese Nachrichten natürlich längst alle gelöscht sind, was auch sonst? Es tut nicht weh, eine Mail zu löschen; einen Brief kann man nicht wegschmeißen.
So wühle ich mich durch alte, nicht weggeschmissene Briefe und lese, was Harry Rowohlt, der große Übersetzer und Briefsteller, einem Kollegen am Beginn einer seitenlangen Korrespondenz schrieb: "Ich drücke mich, das sehen Sie ganz richtig, vor der Arbeit." Heute nennen wir dieses dringende Bedürfnis "Prokrastination" - aber kein Mensch weit und breit stillt es mit dem Schreiben von Briefen. Wer es täte, wäre froher. Er könnte seinen Brief beenden mit der Grußformel: "Durch Frohsinn zum Fortschritt, in Liebe, Dein Alex."
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