NachGedacht: Das Nickerchen der Geschichte ist vorbei
"Jede Stimme zählt", heißt es vor Wahlen immer. Klingt wie eine zweifelhafte Phrase, ist aber wohl gerade jetzt doch nicht ganz falsch, meint Alexander Solloch in seiner Kolumne.
Irgendetwas ist anders an dieser Wahl. Nach einem in jeglicher Hinsicht bitterkalten Wahlkampf verbindet sich mit ihr kaum ein zukunftsfroher Gedanke. Auf wen oder was soll man hoffen? Auf den Kandidaten, der weiter so im Nebel zu stochern verspricht? Oder auf den, der mit 70 nochmal so richtig durchstarten möchte und dabei auf einen Populismus mit menschlichem Antlitz setzt? Man denkt an die schöne Liedzeile von Funny van Dannen: "Ich weiß wirklich nicht, ach nee."
Keiner kann auch sagen, die Aussicht auf das, was man früher "Große Koalition" nannte, stimme zuversichtlich; nahezu alle Erfahrungen, die Deutschland seit 2005 mit dieser Konstellation machte, waren unbefriedigend. Aber da weiß man wenigstens, was man hat: Lieber vertrauen wir uns dem zuverlässig Schlechten an als dem unerprobten Neuen. Das ist der unverzeihliche Frevel aller Protagonisten der selbstzerstörerischen Ampelkoalition: dass sie nicht kapierten, welche demokratiestärkende Chance im ganz neuen Versuch lag, die Kräfte eines weltoffenen Pragmatismus zu bündeln. In den Trümmern dieser Koalition liegt nun auch jegliche politische Phantasie begraben. Dass diejenigen, die das zu verantworten haben, sich nicht nur erneut zur Wahl stellen, sondern dazu noch sonnig verkünden, sie hätten dann anschließend bitte gern dieses oder jenes Spitzenamt, fällt immerhin auf.
Das Ende der beruhigenden demokratischen Sicherheit
Und dennoch: Diese Wahl ist anders. So sehr sich der Blick auch verklären mag bei der seligen Erinnerung daran, wie schön das damals war, als man mit 18, 19, 20 zum ersten Mal sein Kreuz setzte und damit, beispielsweise höchstpersönlich, Kanzler Kohl in den Ruhestand schickte, so wenig kann man doch behaupten, dass man sich je ganz sicher gewesen wäre über das Gewicht der eigenen Stimme, einer von 60 Millionen.
Und, mal ehrlich: War es für das höchst eigene, ganz persönliche Leben wirklich von entscheidender Relevanz, ob ein sozialdemokratischer oder ein christdemokratischer Helmut regierte oder später dann Schroiderstöbermerkel? Sogar einen Kanzler Strauß hätte die Republik in der Phase ihrer Stabilität mutmaßlich durchgeschleppt. Damals und noch bis vor kurzem hielt man diese Stabilität, diese etwas langweilige, aber beruhigende demokratische Sicherheit, für immerwährend.
Die Geschichte ist gern auch mal zynisch
Aber nun sehen wir, dass die Geschichte wohl mal kurz döst, aber nie tatsächlich schläft. Ihr Nickerchen ist beendet, jetzt zeigt sie wieder - drohend und angeberisch - den in einigen tausend Jahren angesparten Inhalt ihres Werkzeugkastens: Dynamik, Disruption, Zerstörung. Plötzlich wird klar: Die Demokratie ist ja überhaupt in gar keiner Weise garantiert. Zum einen liegt dem das Assoziativgesetz der Geschichte zugrunde: Nichts bleibt für die Ewigkeit, kein Imperium, kein Kult, keine Staatsform.
Und zum Anderen erinnert man sich jetzt wieder an das Diktum des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, das schon sechzig Jahre alt und doch erst heute so aktuell ist wie nie: "Der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Die Diktatur kann Untertänigkeit erzwingen, die Demokratie demokratischen Geist nur erhoffen. Wenn er schwindet, schwindet die Freiheit. Das wird noch nicht 2025 geschehen. Aber die Demokratieverächter haben Zeit, sie schauen begierig auf die Bundestagswahl 2029, noch begieriger auf die im Jahr 2033. Die Geschichte ist nämlich gern auch mal zynisch.
Es zählt eben doch jede einzelne Stimme
Auf einmal zählt vielleicht nicht mathematisch, aber psychologisch eben doch jede einzelne Stimme, die sagt: "Bei allem, was mich nervt an dieser Republik und am nächsten Kanzler, bei allem, was fehlt und verstört und verdrießt - eine alles in allem menschenfreundliche Demokratie wär' mir auch weiterhin sehr lieb." Es ist ein Unterschied, ob das 39.999.999 Menschen sagen - oder doch immerhin 40 Millionen.
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