Zahlreiche Wahlplakate hängen nebeneinander © picture alliance / nordphoto GmbH | Hafner Foto: Hafner

NachGedacht: Nein! Chaos ist nicht das neue Normal

Stand: 28.02.2025 06:00 Uhr

Diese Tage sind so turbulent, dass man den Überblick verliert. Alles scheint umgestülpt zu werden. Ist das denn jetzt normal? Nein, meint Ulrich Kühn in seiner Kolumne.

von Ulrich Kühn

Vor ein paar Tagen - oder waren es Wochen? - hat ein Text im "Spiegel" den Eindruck zusammengefasst, der sich seit der feindlichen Übernahme der Vereinigten Staaten von Amerika durch Kaiser Donald den Allgewaltigen festsetzt: Chaos ist das neue Normal.

Nein und nein und nein. Wer sich weismachen lässt, ein Nicht-Zustand des totalen Durcheinanders, der Verbreitung von Furcht und Schrecken, der Einschüchterung der Presse, der Verdrehung des Entstehungszwecks der EU, der Zerschlagung von Institutionen wäre irgendwie "normal", der glaubt wahrscheinlich auch, der Mensch ginge auf dem Kopf und Hühnereier wüchsen auf Bäumen. Chaos ist nicht normal. Chaos ist Chaos ist Chaos. Und genau das soll es anrichten, Chaos im Übermaß: Die Welt wird so lange damit geflutet, bis wir mit den Achseln zucken und kapitulieren: Schön, dann ist es halt so, beten wir, dass uns das neue Normal verschont. Hauptsache, wir haben zu essen. Lieber nicht.

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Dunkelgrauer Wahlkampf mit Giftwasser

Das ergebene Sich-Fügen ist ja nur eine Seite der von den Chaos-Verursachern gewünschten Reaktion. Die andere Seite sahen wir in diesem dunkelgrauen Wahlkampf: Wer in seiner Panik ganz vorn sein wollte, versuchte das Giftwasser, das aus diesem Schlammstrudel tropft, auf die eigenen Mühlen zu lenken: Mehr Musk wagen! Mehr Milei wagen! In heiligem Unernst wurde gestritten, wie man sämtlichen Regelkram aus dem Weg räumt. Sogar der für Feinsinn bekannte Robert Habeck empfahl, als er über bürokratiemonströse Berichtspflichten sinnierte, "die Kettensäge anzuwerfen und das ganze Ding wegzubolzen".

Das war untypisch für ihn. Für andere nicht. Rasend schnell ist es Mode geworden, nach Möchtegern-Kaiser-von-Deutschland-Manier für Tag eins des Amtsantritts Großes zu verheißen. Gesetzliche Grundlage zweifelhaft, Umsetzungsmöglichkeit ebenfalls, aber hey, egal: Hauptsache "einfach mal machen", so der Podcast mit CDU-Generalsekretär Linnemann. Hauptsache disruptiv, wie jetzt das Modezauberwort heißt. So reden Leute, die die Nerven verloren haben.

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Konstruiertes Chaos durch Verdrehung von Logik und Wahrheit

Es liegt ja im Wesen des Chaos, das nichts daran normal ist, dass man es mühselig ordnen muss, um Normalität erst zu gewinnen. Ein Chaos ungewollt anzurichten, ist meistens eher dumm. Wo es aber mutwillig erzeugt wird, geht es nicht darum, eine bessere Normalität für liebe Mitmenschen zu schaffen. Sondern darum, durch Einflößen der Droge Tohuwabohu und durch Verdrehung von Logik und Wahrheit eine Pseudo-Normalität zu installieren, die zum eigenen Vorteil die Verhältnisse aller umstülpt.

In diesem Klima werden Ungeheuerlichkeiten zu pseudovernünftigen Denkbarkeiten. Dann war Hitler plötzlich Kommunist. Und über den Sozialdemokraten Otto Wels, diesen historischen Riesen, der aufrecht bis in den Tod gegen die Nazis stand, verkündet AfD-Geschäftsführer Baumann: "Eher ist Otto Wels einer von uns heute." Das ist nicht heilsames Chaos. Es ist Katastrophen-Spekulation.

Ernst der Lage ist real

Wie antwortet man darauf? Eher nicht, indem man es zur Priorität erklärt, die bundestagsverkleinernde Wahlrechtsreform zurückzunehmen, während man ansonsten zunächst erstaunlich planlos wirkt. Wohl auch nicht, indem man sich in trauter Männerrunde knipsen lässt, als werde der alte Stammtisch es richten. Der Ernst der Lage ist ja keine Behauptung, mit der man Wahlen gewinnt, um wie gehabt weiterzumachen. Der Ernst der Lage ist real. Keine Macht dem Chaos! Und zugleich muss vieles sich grundlegend ändern. Die Aufgabe ist gigantisch. Also bitte erst glasklar denken. Und dann in allem Ernst machen.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NachGedacht | 28.02.2025 | 10:20 Uhr

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