Rio Reiser: Was machte ihn zu einem Ausnahmekünstler?
"König von Deutschland" oder "Junimond": Die Songs von Rio Reiser gehören zum Kanon der deutschen Popmusik. Der Frontmann der Band Ton Steine Scherben ist bis heute ein Vorbild für viele Musiker*innen. In diesem Monat wäre er 75 Jahre alt geworden.
Eine Jubiläumsgala in der ausverkauften Berliner Volksbühne feierte Anfang Januar Rio Reiser: Claudia Roth, die ehemalige Managerin, Gert Möbius, der ältere Bruder Rios, und viele Musiker*innen wie Jan Plewka und Mieze Katz sind dabei. "Man muss es sagen: Rio Reiser ist der größte deutsche Songschreiber aller Zeiten der Welt", findet Schauspieler Alexander Scheer, der immer wieder Rio-Reiser-Lesungen und Abende macht. Mieze Katz meint: "Er war ein Gleichgesinnter, der nicht mehr da ist, aber doch da ist."
Seine Songs sind so etwas wie Allgemeingut. Was machte Rio zu so einem Ausnahmekünstler? "Mich holt das Lied "Halt dich an deiner Liebe fest" ab: Wenn außen alles bricht, dann halte an dem fest, was du hast und was du fühlst. Das ist auch etwas, was mich manchmal trägt", sagt Mieze Katz. Rio Reiser hatte viele Facetten und konnte mehr als Liebes- und Protestlyrik, erklärt Alexander Scheer: "Die Songs überleben jede schlechte Cover-Version. Das liegt daran, dass die einfach richtig gut sind. Die sind im Kern gut, die sind auch drum herum gut. Das geht ins Ohr, das geht direkt ins Herz und die Texte auch - wo du gar nicht weißt: Wo kommen die denn her?"
Ton Steine Scherben: Gewaltfreie Revolution
Ja, wo kommen die her? Angefangen hat Rio Reiser mit seinen Brüdern im politischen Musiktheater in Westberlin. 1970 gründen sich dann Ton Steine Scherben mit Rio als Sänger. Mit Parolen wie "Alles was uns fehlt, ist die Solidarität" werden sie schnell zu Posterboys der linken Szene und setzen sich ein - für ihre politischen Ideale. Sie spielen zum Beispiel bei Hausbesetzungen. "Da war ein Aufbegehren da", sagt Band-Manager Nikel Pallat. "Das lebst du eben in der Musik und in den Songs aus. Da musst du klare Stellungen beziehen. Wir wollten einfach eine gleichberechtigtere Gesellschaft haben und gegen Ausbeutung sein. Das ist eine Selbstverständlichkeit für uns gewesen."
Die Scherben wollen die Revolution - ohne Gewalt, aber mit Wortwitz: Alltagsbeobachtungen, Liebeskummer und auch Politisches fließen in Rios Songs ein - und manchmal kommen die einfach über Nacht", erzählt Ton Steine Scherben-Bassist Kai Sichtermann: "Ich kann mich an eine Situation erinnern: Das war noch in Berlin, am Tempelhofer Ufer. Ich bin morgens ziemlich früh in die Küche gegangen und da saß Rio schon im T-Shirt, barfuß, und hat gesagt: 'Ich habe heute Nacht von einem Song geträumt.' Dann hat er die Gitarre genommen, ein bisschen herumprobiert und dann hat er mir den ganzen Song aus einem Guss vorgespielt. Das war 'Der Traum ist aus'."
Rio Reiser: Authentisch, zärtlich, zornig
Das Private ist politisch und das Politische bestimmt das Private. Die Band zieht ins nordfriesische Fresenhagen, lebt dort als Kommune zusammen. Dieser Ort wird für Rio zu seinem Safe Space, wo er seine Homosexualität leben kann - in den 1970er-Jahren nicht selbstverständlich, auch nicht bei linken Subkultur-Hippies. "Es war auf jeden Fall so, dass Rio als Persönlichkeit nach außen eher schüchtern war. Mit seiner Sexualität kam er überhaupt nicht klar, als das noch tabuisiert war", erzählt Nikel Pallat. "Das war ein Spannungsfeld, das ihn jahrelang sehr nach innen zog und wo er keine Möglichkeit hatte, das richtig auszuleben" - außer in seiner Musik.
Rio Reiser ist radikal authentisch: zärtlich, zornig, cool - und immer unbedingt empathisch. All das findet sich in seinen Songtexten, die gerade als Buch erschienen sind: "Ich will ich sein". "'Junimond' haben wir in vielen Varianten gehört und es könnte einem passieren, dass man das überkriegt", sagt Mieze Katz. "Selbst wenn es dann mal so ist, erwischt es dich an irgendeinem Abend. Dann kommt dieses Lied und du musst weinen, weil es so eine große, authentische Wahrheit ist."
"Ich glaube, ein wesentlicher, wenn nicht der wesentlichste Punkt ist: Die Texte, seine Poesie, kommen aus seinem Herzen. Er trägt seine Lieder auf der Zunge. Er kann gar nicht anders", erklärt Alexander Scheer. "Du merkst, wenn du sie singst: Die machen etwas mit dir - und die machen etwas mit dir, wenn du sie hörst. Das ist eine ganz seltene Gabe. Deswegen ist er der Größte."