Julian Prégardien: Auf der Spur der Winterreisenden
Tenor Julian Prégardien erzählt im Gespräch von seiner Faszination für Schuberts "Wintereise" in der "komponierten Interpretation" von Hans Zender beim SHMF 2021.
Im Sommer 2021 trafen sich rund 100 junge Musikerinnen und Musiker aus aller Welt in Schleswig-Holstein, um gemeinsam große Werke des Repertoires einzustudieren: Bekannte und weniger Bekannte - oder auch Bekanntes in ungewohnter Gestalt. Am 17. Juli stand in der NordArt in Büdelsdorf Franz Schuberts "Winterreise" auf dem Programm, allerdings in einer Orchesterbearbeitung von Hans Zender. Die Leitung hatte die taiwanesische Dirigentin Lin Liao, den Tenor-Part übernahm Julian Prégardien. Im Gespräch erzählt der erfahrene Schubert-Interpreten Prégardien, was ihn so sehr an Zenders "Winterreise" begeistert - immer wieder, aber auch gerade an diesem Schauplatz in Norddeutschland.
Was macht die Stärke der Zender-Fassung aus?
Julian Prégardien: Das Kommunikative. Dass da so viele Menschen auf der Bühne sind wie die 'Winterreise' Lieder hat - 24 oder 25. Und dass eine ganz große Wachheit da ist, dass diese typische Situation, Sänger plus Pianist, aufgebrochen ist. Das heißt, man ist von vornherein mit einer ganz anderen Situation konfrontiert als Zuhörer und wird in das kalte Wasser geschmissen, das Hans Zender uns da eingelassen hat, und kommt hinterher anders an, als wenn man das im Kammermusiksaal hört. Es hat nicht mehr diesen bürgerlichen Rahmen. Das tut dem Stück sehr gut.
Eignet es sich demnach auch für eine andere Zielgruppe?
Prégardien: Ja, aber das heißt nicht, dass sich die Version mit Klavier nicht auch für eine andere Zielgruppe eignen würde. Es eignet sich vor allem für so einen Raum wie dem, in dem wir das heute aufführen, so eine Industriehalle mit zeitgenössischer Kunst außen rum - so gemischt Industrielles mit sehr unterschiedlicher zeitgenössischer Kunst im Raum. Da würde ich jetzt eine 'Winterreise' mit Klavier nicht wirklich einstellen, aber die Zender-Version, die passt da wie die Faust aufs Auge. Ich fand es eine ganz tolle Idee des Schleswig-Holstein Musikfestivals, das hier in dieser Hütte stattfinden zu lassen.
Welche Rolle spielt die Bewegung der Musiker? Die bewegen sich ja zum Teil durch den Raum, vor allem die Holzbläser.
Prégardien: Das hat vor allem natürlich einen räumlich-akustischen Effekt. Das Irrlicht ist dafür das Paradebeispiel. Da fühlt man sich tatsächlich wie verloren, weil man ständig links und rechts hört und links und rechts schauen möchte, wo denn jetzt dieses Irrlicht stattfindet. Das anfängliche Wandern der Musiker hat eher was Rituelles, auch das Publikum mit Einschließendes. Es gehört einfach zu der Performance dazu, würde ich sagen. Da versteht man dann recht schnell: Okay, es geht um Wandern. Man hört dann halt auch so von zwei Sandblöcken geriebene [macht das Geräusch] wie so stapfende Schritte oder was einfach sich langsam Fortbewegendes - das wird dadurch illustriert. Das ist aber eher so ein Plus-Effekt, nicht das Eigentliche diese Bearbeitung.
Das Wandern ist ja in unserer Gesellschaft äußerst positiv konnotiert. Zu Schuberts Zeit, zur Romantik, fing es auch an, ein Selbstzweck zu werden. Aber in diesem Zyklus ist es ja ganz anders …
Prégardien: Ja, es fängt erst einmal an als Wegkommen, Wegfliehen, als Flucht. Das ist aber ein Motiv, was gar nicht typisch romantisch ist, sondern was, wenn man sich ein bisschen mit barocker Lyrik auseinandersetzt - was Wilhelm Müller übrigens getan hat: Er hat Werke von Martin Opitz zum Beispiel mit herausgegeben. Und es gibt ein ganz tolles Gedicht von Martin Opitz - ich bin nicht sicher, ob es 'Die schöne Galathee' oder 'Galathee' heißt -, da ist genau dieses Motiv des einsamen Wanderers an einem zugefrorenen See. Also da, wo wir quasi mit dem Leiermann ankommen, da beginnt dieses Martin-Opitz-Gedicht: 'Coridon ging betrübet an der kalten Zimbersee'. Da stellt sich dann heraus, dass er verjagt wurde von seiner Liebsten. Unsere Situation des Wanderers, der vielleicht in eine höhere Tochter verliebt war und sie nicht haben konnte oder sie ihn nicht haben wollte. Damit beginnt jetzt keine Wanderschaft im Sinne von 'Da ist so ein Handwerker, der geht auf die Walz', sondern das ist ein 'Ich muss hier weg, ich kann ihn nicht bleiben. Ich habe eine Kränkung erfahren, und muss erst mal weg'.
Ich habe heute die Gedichte alle noch mal durchgelesen und dabei schoss mir durch den Kopf: Wenn man mal davon ausgeht, dass das vielleicht ein 18/19-jähriger Jüngling ist - das ist ja genau die Zeit, wo man diesen jugendlichen Gefühlsüberschwang hat und sterben möchte vor Liebe und sterben möchte vor Freude und so weiter. Dann hat das auf einmal nicht mehr so etwas Superexistenzielles und Schweres, sondern ist eben eine wahnsinnig gefühlvolle Lebensphase, die jemand durchmacht.
Prégardien: Es hat verschiedene Aspekte, würde ich sagen. Es hat auf der einen Seite diese gekränkte jugendliche Liebe oder große Enttäuschung, die sich im Verlaufe des Zyklus dann aber umkehrt in einen Hass auf die Gesellschaft und ein seine Rolle in der Gesellschaft nicht wissen oder nicht finden. Das ist meine Perspektive auf den Zyklus. Also schon: Es wird zu einer existenziellen Frage, sobald sie sich von dieser Liebesgeschichte loslöst, was spätestens mit der Krähe passiert. Dann geht es eigentlich darum, dass da ein miesgelaunter oder eine miesgelaunte Person ist, die auf alles schimpft, was sich ihr in den Weg stellt. Es ist also kein Misanthrop, aber doch, möchte ich mal sagen, hat er Aspekte von depressivem Verhalten und von autoaggressivem Verhalten. Es ist sehr interessant, mit einem Verhaltenspsychologen mal drüber sich auszutauschen. Ich finde, dass es ganz viele Aspekte eben von Verarbeitung, von Enttäuschung hat, die aber sich umkehren - und dann auch in Gewalt durchaus und in Hybris. 'Mut', zum Beispiel, ist ein ganz gutes Beispiel dafür, was in der Wissenschaft aber dann oft als ironisches Lied dargestellt wird.
Ich habe im Verlauf der letzten zehn Jahre, in denen ich den Zyklus singe, zum Glück eine eigene Sicht entwickeln können auf die Gedichte und auch auf die Art und Weise, wie Franz Schubert sie dann umgestellt hat und wie er sie vertont hat. Auch welche Tonarten er gewählt hat und dann verändert hat. Diesen Zyklus umgibt ja so ein Nimbus, so eine Erwartungswolke. Das heißt, man erwartet zum Beispiel, dass man traurig ist am Ende und dass man um diesen jungen Mann trauert, der im Leiermann diesen toten Boten gefunden hat und ihm nur noch die Hand reichen muss und damit dem Leben Adieu sagt. Das ist gar nicht meine Perspektive auf den Zyklus, sondern stellvertretend für sich selber schicken da Wilhelm Müller und Franz Schubert eine Kunstfigur in eine andere Sphäre. Aber nicht in den Tod - es ist auch gar nicht so wichtig. Es geht eher darum, dass sich da ein Individuum positioniert - und zwar auf sehr fatale Art und Weise positioniert. Da spricht jemand davon, dass er sich nur selbst den Weg weisen kann, dass er sich quasi im Spiegel sieht und sagt: Ich bin mir selbst der Wegweiser. Und ich gehe jetzt einen Weg, den keiner mehr zurückgeht. Das hat was Verbohrtes und Asoziales oder Soziopathisches, und das ist was, was uns eher eine Warnung sein sollte, für - Sie sagten eingangs, wir stellen uns mal einen 18/19-jährigen jungen Mann vor -, dass es solche jungen Menschen, nicht nur Männer, gibt, dass die uns ständig begegnen. Dass es solche Typen gibt, die sich in so einer Sackgasse befinden und die der Meinung sind, mir kann keiner helfen. Ich bin auf mich alleine gestellt. Wie komme ich hier raus? Ah, ich tue mir weh. Ich gehe woanders hin, wo keiner mich findet. Das ist das, was uns als moderne Menschen im 21. Jahrhundert, meine ich, der Zyklus zeigen möchte oder was ich hoffe, was er zeigen kann, dass solche Menschen sich in unserem Umfeld befinden können, ohne dass wir es merken. Ich sage jetzt mal, Robert Emke, der Torwart, der sich das Leben genommen hat, wo keiner mit gerechnet hätte. Das ist ein Winterreisender, wenn man so möchte.
Ich kenne einen anderen Winterreisenden. Das ist der Hunde-Hans in Limburg, meiner Heimatstadt, das ist jemand, der einen anderen Weg gefunden hat, einen anderen Ausweg aus einem Leben, das er nicht mehr mochte. Der lebt in einer Hütte an der Lahn, hat ein paar Hunde um sich herum und eine Lebensgefährtin, hat auch Kinder. Der hat unserem Familienhund mal das Leben gerettet. Der ist in der Lahn eingebrochen. Wir hatten einen Berner Sennenhund. Meine Mutter war mit dem spazieren, und der Hunde-Hans hat das mitbekommen, hat eine Leiter geholt und den Hund am Genick wieder herausgezogen aus der Lahn. Seitdem ist er ein bisschen ein Freund meiner Mutter geworden. Wer diesen Mann sieht, der denkt sich, der kann doch nicht glücklich sein. Der lebt in so einer kargen Hütte an der Lahn, so ein bisschen als Outlaw, hat kein Einkommen und sieht ein bisschen ungepflegt aus. Dabei, wenn man mit dem spricht, es ist ein hochintelligenter Mann, hat eine ganz große Bildungsbandbreite, ist wahnsinnig redegewandt. Das heißt, er hat ein Leben hinter sich. Das hat er aber hinter sich gelassen, ganz bewusst, und hat ein anderes Leben angefangen, das natürlich nicht unseren modernen Maßstäben von glücklichem Leben entspricht. Aber auch das ist zum Beispiel ein Winterreisender. Oder mehr ein Leiermann als ein Winterreisender. Natürlich ist es für mich jetzt auch kein erstrebenswertes Lebensziel. Aber manchmal passieren Menschen Einschnitte im Leben, die sie umkehren lassen. Und davon lernen wir in der Winterreise zwei kennen. Der eine ist gerade im Verarbeitungsprozess, und den anderen lernen wir am Ende kennen, ganz final. Es ist ja die einzige andere Person, andere Figur, die uns vorgestellt wird: der Leiermann, vor dem wir Angst haben, weil er irgendwie alles verkörpert, was nicht erstrebenswert ist. Der kriegt kein Geld, der ist barfuß. Die Leute lachen über ihn, die Hunde knurren, und er dreht seine Leier.
Aber er gibt nicht auf. Ich finde, in gewisser Weise ist eine ermutigende Gestalt.
Prégardien: Ja, ich finde auch, das ist eine ermutigende Gestalt. Vor allem ist das, glaube ich, was Müller und Schubert - bewusst, unbewusst, keine Ahnung - zeichnen: Sie zeichnen die Figur eines idealen Künstlers, der das nicht macht, um Geld zu verdienen, der das auch nicht macht für gesellschaftliche Anerkennung, sondern der das nur um der Kunst selber willen macht.
Dann hat Schubert seine Zwangssituation ein bisschen überhöht auf diese Weise …
Prégardien: Vielleicht.
Aber mit dem Gedanken im Hinterkopf passt die Aufführung natürlich in so einen Saal wirklich viel besser als in irgendeinen biedermeierlichen Salon, klar.
Prégardien: Ja, auch deswegen, weil - ich habe das vor Jahren mal irgendwann formuliert, es wird dann ganz gerne mal zitiert -, sich Franz Schubert ja eher in so einem subversiv-linken-Umfeld aufgehalten hat. Und heute ist die Aufführungskultur vom Lied ja alles andere als subversiv und links [lacht], und das ist ein interessantes Spannungsfeld. Weil die Zender-Winterreise wirkt ja, auch wenn sie gar nicht so gedacht ist, total provokativ und wirkt ja auch so ein bisschen verstörend. Und dann denke ich zurück: Ah, verstörend! Ist es ist nicht genau das, was Schuberts Freunde gesagt haben, wie die Winterreise auf sie gewirkt hat? Zender ist ein ziemlich kluger Kopf. So von hinten durch die Brust ins Auge hat er eine Wirkung mit seiner Musik, die Franz Schuberts Musik vielleicht vor 200 Jahren hatte, nur mit ganz anderen Mitteln, weil wir ganz anderes gewohnt sind zu hören, weil wir ganz andere Musik im Verlaufe der Zeit schon kredenzt bekommen haben. Wir haben eben Alban Berg schon gehört, das hat Schubert vorausgeahnt - schon in 'Winterreise' und 'Schwanengesang', diese Art, mit Musik umzugehen, dieses Karge, Sprechende vor allem im 'Schwanengesang', noch nicht so sehr in der 'Winterreise', aber im 'Schwanengesang'. Was ich sagen wollte: Wir kennen heute schon so viele andere Musik, und Zender führt uns vor, wie man das so in eins bringen kann und 'Winterreise' erleben kann, als sei es ein Stück von heute mit Anteilen von vor 200 Jahren. Ich glaube, Hans Zender hat es mal als Palimpsest beschrieben. Palimpsest ist so ein altes Pergament, das abgekratzt wird, und das von vorher scheint aber noch durch. Dieses Bild finde ich für das Stück eine ganz tolle Imagination, dass Hans Zender auf dieses Palimpsest sein Stück 'Winterreise' draufschreibt.
Das Gespräch führte Christiane Irrgang.