Kommentar zu Protesten gegen Netrebko: Dialogverweigerung
Anna Netrebko hat am Freitag in Berlin gesungen. Wegen angeblicher Nähe zu Putin war sie nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in die Kritik geraten; gegen ihren Auftritt gab es Proteste. Ein Kommentar.
Der Streit um Anna Netrebkos Auftritte auf deutschen Opernbühnen dauert nun schon so lang wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Was das Eine mit dem Anderen zu tun hat, finde ich äußerst fraglich.
Raketen auf Kiew, Odessa und Mariupol sind nicht wegzudiskutieren. Man kann aber überlegen, ob die Gewissensnöte einer Sängerin, die von sich behauptet, unpolitisch zu sein, angesichts des Kriegsterrors echt sind. Anna Netrebko hat sich nie offen hinter die Lügen über ein angeblich ukrainisches Nazi-Regime gestellt. Sie hat sich auch nicht als glühende Gegnerin des Kreml-Kriegsherrn betätigt.
Sie wünsche sich Frieden, sagt sie. Ob klug oder naiv, sie bewegt sich mit ihren Aussagen in einem Graubereich. Nennt den Krieg tatsächlich Krieg, erklärt öffentlich, sie sei "gegen diese schreckliche Gewalt". Das soll mal eine Künstlerin im Bolschoi-Theater verkünden - sie würde ruckzuck festgenommen. Netrebko sagt aber auch, dass sie es nicht verwerflich finde, als Vorzeigekünstlerin des Landes mehrfach vor dem Präsidenten aufgetreten zu sein.
Anna Netrebko: Distanzierung ausreichend oder ausweichend?
Genau diese Weigerung, sich in einer Wahl allein zwischen Schwarz und Weiß, Böse und Gut auf eine Seite zu stellen, werfen ihr ihre Kritiker vor, versuchen sich lautstark Gehör zu verschaffen und ihre Auftritte zu unterbinden. Mich stört dabei die unerschütterliche Selbstgewissheit, mit der diese Kritiker auftreten. Netrebko hat sich von Russlands Angriffskrieg distanziert. Nun kann man diskutieren: ausreichend oder ausweichend? Knallhart oder pflaumenweich? So zu tun, als hätte sie nichts gesagt, ist jedoch schlicht wahrheitsverzerrend. Wer das behauptet, vertritt das Motto: Sagst du nicht exakt, was ich hören möchte, bist du für mich erledigt, mehr noch - erledige ich dich.
So wie die zum Teil gleichen Leute die Auftritte des Dirigenten Teodor Currentzis verhindern wollen, obwohl der in seinen Programmen ukrainische Komponisten und Werke mit stalinismuskritischen Inhalten dirigiert, aber kein Wort zum Krieg sagt. Während der chinesische Pianist Lang Lang weiter als Tastenliebling des Westens auftreten kann, ohne sich über die totalitäre Diktatur in China und die Internierungslager für Uiguren äußern zu müssen.
Reden und Zuhören nicht wünschenswert
Es lohnt sich, über solche Themen zu diskutieren und dabei nicht nur die Antworten "goldrichtig" oder "grundfalsch", 1 oder 0 gelten zu lassen. Es lohnt sich zu überlegen, welche Vielzahl an starken, mittelstarken, selbstkritischen und zögerlichen Haltungen es noch gibt neben der eigenen, moralisch scheinbar so unanfechtbaren Gewissheit.
Am Ende so einer Debatte kann sich jeder Opernfreund gern von Netrebko abwenden und ihren Auftritten in Berlin, in Hamburg oder anderswo fernbleiben. Etwas ganz anderes ist es, einen offenen Brief zu unterzeichnen, in dem es heißt: Dialog mit Künstlerinnen, die sich vom russischen Regime einspannen lassen, sei nicht möglich und auch nicht wünschenswert.
Ernsthaft? Reden und Zuhören nicht wünschenswert? Wer sich derart im Besitz der Wahrheit wähnt, ist in meinen Augen ein größeres Hindernis für gesellschaftlichen Frieden als eine wankelmütige, Verdi singende Operndiva oder ein schweigender, Schostakowitsch aufführender Stardirigent.