Teaodor Currentzis dirigiert das "War Requiem" in der Elbphilharmonie © Selina Demtröder/Elbphilharmonie Foto: Selina Demtröder
Teaodor Currentzis dirigiert das "War Requiem" in der Elbphilharmonie © Selina Demtröder/Elbphilharmonie Foto: Selina Demtröder
Teaodor Currentzis dirigiert das "War Requiem" in der Elbphilharmonie © Selina Demtröder/Elbphilharmonie Foto: Selina Demtröder
AUDIO: "War Requiem" mit Curentzis und dem SWR Sinfonieorchester in Hamburg (4 Min)

Currentzis dirigiert "War Requiem": Klangskulptur aus tanzenden Luftmolekülen

Stand: 17.06.2024 13:53 Uhr

Der Dirigent Teodor Currentzis hat Benjamin Brittens "War Requiem" in der Hamburger Elbphilharmonie dirigiert. Es war sein letztes Konzert als Chef des SWR-Symphonieorchesters.

von Mischa Kreiskott

Wenn man die Portraits eines Michelangelo Caravaggio betrachtet, die Landschaften von Caspar David Friedrich oder einen gut fotografierten Hollywood-Film dann kann man es erkennen, dieses Spiel von Licht, Farben und Dunkelheit. Ein Komponist wie Benjamin Britten macht den Kirchenraum oder in diesem Fall den Konzertsaal zu seiner Leinwand.

Der Knabenchor Hannover "schwebt" rechts oben auf einer der höheren Emporen. Allein das verstärkt die ätherische, entrückte Wirkung der Stimmen. Das SWR Vokalensemble und der London Symphony Chorus als Großchor sind kompakt und mittig darunter vertreten und das Orchester schafft unten das klangliche Fundament.

Weitere Informationen
Der Komponist und Dirigent Benjamin Britten dirigiert 1968 in Ost-Berlin sein Stück "War Requiem" ©  picture-alliance / dpa

Benjamin Brittens "War Requiem": Ergreifend, damals wie heute

Zum Abschluss des Hamburger Musikfestes war Brittens Werk mit dem SWR Symphonieorchester unter Leitung von Teodor Currentzis zu hören. mehr

Currentzis "War Requiem": Ein penibel geformter Klang

Es gibt nicht viele Musikwerke, in denen der Klang von Stimmen und Instrumenten so meisterhaft miteinander verwoben wird wie bei diesem Requiem über den Horror der Schützengräben. Und es gibt nicht viele Dirigenten, die in der Lage sind, diese Textur so intensiv hervorzuheben wie Teodor Currentzis.

Vor sechs Jahren trat er an, um aus den zwei so unterschiedlichen Klangkörpern des Südwestrundfunks eine neue Orchester-Einheit zu schaffen. Unmöglich, unkten damals schon die Kritiker, deren Münder jetzt bei dieser Abschlusstournee offenstanden. Einen so penibel geformten Klang, ein solches Spektrum an Farben und Schattierungen erlebt man im Konzertsaal sehr, sehr selten.

Currentzis steuert genau die Dynamik

Der Knabenchor Hannover bei der Aufführung des "War Requiem" in der Elbphilharmonie © Selina Demtröder/Elbphilharmonie Foto: Selina Demtröder
Der Knabenchor Hannover "schwebt" rechts oben auf einer der höheren Emporen.

Teodor Currentzis weiß, wie er durch seine Mimik die Intonation der Solisten beeinflussen kann: Irina Lungu (Sopran), Allan Clayton (Tenor), Matthias Goerne (Bariton). Er weiß, wann er die Chorsänger leicht unterspannt sitzend singen lässt, damit sie die Lyrik des Tenors nicht überstrahlen, er lässt sie im richtigen Moment aufstehen, wenn sie sich mit den grellen Blechbläsern messen müssen.

Currentzis entfacht durch genauste Steuerung der Dynamik das leiseste Leise (Piano) und das gewaltigste Laut (forte). Hier greift jemand direkt ein in die Klangskulptur aus tanzenden Luftmolekülen.

Hamburger Publikum feiert frenetisch Dirigent und Musiker

Damals 1962 ist es minutenlang still in der Kathedrale von Coventry, Benjamin Britten wollte Applaus nach dieser Uraufführung. Auch in der Elbphilharmonie wirkt die Spannungspause scheinbar ewig, bevor das Hamburger Publikum diese Musiker und ihren Dirigenten frenetisch feiert.

Currentzis hat die Abendgarderobe, die er sich zwischenzeitlich angewöhnt hatte, wieder abgelegt und tritt heute wieder wie zu Beginn seiner Karriere in Deutschland auf: Jeans mit schwarzem Kittel. Er wirkt wie eine Figur zwischen Ausdrückstänzer und Tonmeister.

Wieviel Positionierung steckt in der Wahl dieses Repertoires?

SWR Vokalensemble und der London Symphony Chorus bei der Aufführung des "War Requiem" in der Elbphilharmonie © Selina Demtröder/Elbphilharmonie Foto: Selina Demtröder
Das SWR Vokalensemble und der London Symphony Chorus.

Und ja, natürlich hätte man sich gewünscht, dass er, der nach wie vor Karriere und Geld in Moskau und St. Petersburg macht, sich explizit gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen hätte, sich öffentlich von Vladimir Putin distanziert hätte. Das hätte für seinen öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber die Situation erträglicher gemacht.

Andererseits: Wieviel Positionierung steckt in der Wahl dieses Repertoires für eine Abschiedestournee: Das Antikriegswerk des homosexuellen Komponisten Benjamin Britten der seinen Partner den Tenor Peter Pears damals gemeinsam mit dem deutschen Dietrich Fischer-Dieskau die Schützengraben-Lyrik des ebenfalls homosexuellen Wilfried Owen singen lässt.

Wäre so eine Aufführung im "maskulinistischen" Russland von 2024 möglich? Mann kann Currentzis auch vorwerfen, er betreibe ein Vexierspiel, trete hier so und dort anders auf. Das stimmt! Gleichzeitig kann man sich auch fragen, ob es sie nicht, spätestens "eines Tages braucht, die Zwischentöner, die Versteher, und Schattierer. Die ihr Ohr und ihre Sinne sehr intensiv auf unterschiedliche Kulturen richten können. 

 

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 17.06.2024 | 07:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Klassik

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Porträt von Philipp Schmid © NDR Foto: Sinje Hasheider

Philipps Playlist

Philipp Schmid kennt für jede Lebenslage die richtige Musik. Egal ob Pop, Klassik oder Jazz. Träumt Euch zusammen mit ihm aus dem Alltag! mehr

Peter Urban © NDR Foto: Andreas Rehmann

Urban Pop - Musiktalk mit Peter Urban

Spannende Stories, legendäre Konzerte, bewegende Begegnungen: Peter Urban hat viel erlebt und noch mehr zu erzählen. mehr

Mehr Kultur

Christian Kind steht in seinem Plattenladen hinter der Kasse und lächelt in die Kamera. © NDR Foto: Antonia Reiff

Gerettet durch Crowdfunding: Hamburger Plattenkiste macht weiter

Das Geschäft im Stadtteil Hoheluft versorgt Musikfans mit Vinyl und CDs - doch durch die Corona-Zeit und Schulden stand es kurz vor dem Aus. mehr