Currentzis dirigiert "War Requiem": Klangskulptur aus tanzenden Luftmolekülen
Der Dirigent Teodor Currentzis hat Benjamin Brittens "War Requiem" in der Hamburger Elbphilharmonie dirigiert. Es war sein letztes Konzert als Chef des SWR-Symphonieorchesters.
Wenn man die Portraits eines Michelangelo Caravaggio betrachtet, die Landschaften von Caspar David Friedrich oder einen gut fotografierten Hollywood-Film dann kann man es erkennen, dieses Spiel von Licht, Farben und Dunkelheit. Ein Komponist wie Benjamin Britten macht den Kirchenraum oder in diesem Fall den Konzertsaal zu seiner Leinwand.
Der Knabenchor Hannover "schwebt" rechts oben auf einer der höheren Emporen. Allein das verstärkt die ätherische, entrückte Wirkung der Stimmen. Das SWR Vokalensemble und der London Symphony Chorus als Großchor sind kompakt und mittig darunter vertreten und das Orchester schafft unten das klangliche Fundament.
Currentzis "War Requiem": Ein penibel geformter Klang
Es gibt nicht viele Musikwerke, in denen der Klang von Stimmen und Instrumenten so meisterhaft miteinander verwoben wird wie bei diesem Requiem über den Horror der Schützengräben. Und es gibt nicht viele Dirigenten, die in der Lage sind, diese Textur so intensiv hervorzuheben wie Teodor Currentzis.
Vor sechs Jahren trat er an, um aus den zwei so unterschiedlichen Klangkörpern des Südwestrundfunks eine neue Orchester-Einheit zu schaffen. Unmöglich, unkten damals schon die Kritiker, deren Münder jetzt bei dieser Abschlusstournee offenstanden. Einen so penibel geformten Klang, ein solches Spektrum an Farben und Schattierungen erlebt man im Konzertsaal sehr, sehr selten.
Currentzis steuert genau die Dynamik
Teodor Currentzis weiß, wie er durch seine Mimik die Intonation der Solisten beeinflussen kann: Irina Lungu (Sopran), Allan Clayton (Tenor), Matthias Goerne (Bariton). Er weiß, wann er die Chorsänger leicht unterspannt sitzend singen lässt, damit sie die Lyrik des Tenors nicht überstrahlen, er lässt sie im richtigen Moment aufstehen, wenn sie sich mit den grellen Blechbläsern messen müssen.
Currentzis entfacht durch genauste Steuerung der Dynamik das leiseste Leise (Piano) und das gewaltigste Laut (forte). Hier greift jemand direkt ein in die Klangskulptur aus tanzenden Luftmolekülen.
Hamburger Publikum feiert frenetisch Dirigent und Musiker
Damals 1962 ist es minutenlang still in der Kathedrale von Coventry, Benjamin Britten wollte Applaus nach dieser Uraufführung. Auch in der Elbphilharmonie wirkt die Spannungspause scheinbar ewig, bevor das Hamburger Publikum diese Musiker und ihren Dirigenten frenetisch feiert.
Currentzis hat die Abendgarderobe, die er sich zwischenzeitlich angewöhnt hatte, wieder abgelegt und tritt heute wieder wie zu Beginn seiner Karriere in Deutschland auf: Jeans mit schwarzem Kittel. Er wirkt wie eine Figur zwischen Ausdrückstänzer und Tonmeister.
Wieviel Positionierung steckt in der Wahl dieses Repertoires?
Und ja, natürlich hätte man sich gewünscht, dass er, der nach wie vor Karriere und Geld in Moskau und St. Petersburg macht, sich explizit gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen hätte, sich öffentlich von Vladimir Putin distanziert hätte. Das hätte für seinen öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber die Situation erträglicher gemacht.
Andererseits: Wieviel Positionierung steckt in der Wahl dieses Repertoires für eine Abschiedestournee: Das Antikriegswerk des homosexuellen Komponisten Benjamin Britten der seinen Partner den Tenor Peter Pears damals gemeinsam mit dem deutschen Dietrich Fischer-Dieskau die Schützengraben-Lyrik des ebenfalls homosexuellen Wilfried Owen singen lässt.
Wäre so eine Aufführung im "maskulinistischen" Russland von 2024 möglich? Mann kann Currentzis auch vorwerfen, er betreibe ein Vexierspiel, trete hier so und dort anders auf. Das stimmt! Gleichzeitig kann man sich auch fragen, ob es sie nicht, spätestens "eines Tages braucht, die Zwischentöner, die Versteher, und Schattierer. Die ihr Ohr und ihre Sinne sehr intensiv auf unterschiedliche Kulturen richten können.