Hurricane Festival-Blog 2023: Das große Finale
Von Freitag bis Sonntag fand auf dem Eichenring in Scheeßel eines der größten Musikfestivals in Deutschland statt. Auch in diesem Jahr hat NDR Musikjournalist Matthes Köppinghoff wieder beim Hurricane in Niedersachsen gebloggt, berichtet und beobachtet.
Und schon ist das hier wieder fast vorbei. Die vergangenen Tage liegen mir dezent in den Knochen; zumindest habe ich kurz Kreislauf, nachdem ich den neuen Vlog eingesprochen habe. Für euch zur Info: Dafür muss ich in den Kleiderschrank meines Hotelzimmers klettern, dann noch eine flauschige Decke über mich und mein Handy hängen, anschließend dürfen die Kleiderbügel auch nicht rappeln, und ersticken darf man auch nicht, weil das ja schlecht für den nächsten Vlog wäre. Sowas wird einem an der Uni aber auch nicht erzählt! Aber, wie mein literarisches Vorbild Hunter S. Thompson einst schrieb: "When the going gets weird, the weird turn pro." In diesem Sinne: Hut auf, in der linken Hand ein schwarzer Kaffee, in der rechten eine kalte Limo (eine fehlt mir noch, dann habe ich alle aus dem Angebot des Catering-Zelts durch), und los geht’s!
Die Abschlusspressekonferenz: Ein erfolgreiches Hurricane
Nachdem ich von Power Plush leider doch nur den letzten Song mitbekommen habe, setze ich mich ins heiße Pressezelt. Immerhin bin ich zur Abschlusspressekonferenz pünktlich, und hier erzählt FKP Scorpio Chef Stephan Thanscheidt, dass er auf ein sehr gutes Festival zurückblicken kann: Es gab keine Ausfälle (das wäre wegen der NATO-Manöver durchaus möglich gewesen), so sei er wahnsinnig zufrieden, insgesamt ein großartiges Wochenende. Für Thanscheidt war die Festivalshow von Rapper Casper eine der besten überhaupt gewesen. Auch mit den Ticketverkäufen ist man sehr zufrieden - nur einige wenige Tickets wären noch übrig, aber man befinde sich auch in schwierigen Zeiten; rechnet man die postpandemischen Zustände plus Inflation ein, machen die Besucherzahlen schon sehr stolz.
Das "Panama"-Konzept wird gut angenommen
Doch auch hier grätscht die aktuelle Diskussion um Rammstein rein. Auf meine Nachfrage, ob das Angebot des "Panama-Konzepts" im Vergleich zu den vergangenen Jahren öfter angenommen würde, sagt Thanscheidt: Zahlen dazu gäbe es nicht, eben um die Anonymität von Betroffenen zu bewahren. Viele nutzten das Angebot aber auch, wenn ihnen wegen Hitze unwohl ist; auch gibt es hier viele Besucher*innen, die zum ersten Mal auf einem Festival sind, oder die einen Seelsorger brauchen, die gibt’s nämlich auch hier.
Anfänge einer großen Karriere: Nina Chuba und Edwin Rosen
Ein Musikjourno-Kollege hat einst den Satz geprägt: "Männer in kurzer Hose haben keine Ehre." Auch ich bin kein sonderlich großer Fan von Shorts als Arbeitskleidung - aber gerade im Pressezelt habe ich schwitzend meine Kleidergrundregeln endgültig über Bord geworfen. Und einen anderen Kollegen darauf angesprochen, es sei auch immer eine Frage, was das für eine kurze Hose ist. Und so schreite ich in brüllender Hitze mit kurzen Hosen wie eine Spar-Version von Skater-Legende Tony Hawk und blendend weißen Beinen rüber zu Nina Chuba.
Der Platz vor der River Stage ist schon vor dem ersten Song pickepackevoll. Auch schon vor dem Hit "Wildberry Lillet" hat die Künstlerin die Massen unter Kontrolle. Prognose: Hier startet eine sehr große Karriere zum nächsten Schritt. Dasselbe prognostiziere ich bei Edwin Rosen: Vor der Bühne im Zelt ist es so voll wie noch nie während des diesjährigen Hurricane Festivals. Der Künstler aus Stuttgart wird frenetisch bejubelt, und er sagt: "Das ist die größte Menschenmenge, vor der ich je gestanden habe." Das bedeutet ihm offensichtlich viel, und das Publikum singt Songs wie "Verschwende Deine Zeit" textsicher mit. Zusatzbemerkung: Diese Eighties-Vibes, herrlich!
Das heiße Wetter macht vielen zu schaffen
Viele andere Festivalfans kämpfen hingegen mit dem Kreislauf, flüchten sich an schattige Orte, von denen es hier leider nur wenige gibt. An den Getränkeständen bilden sich lange Schlangen, auch an den Trinkwasserstellen kommt man nur langsam durch. Aber: Die Leute passen aufeinander auf, sind aufmerksam, rufen im Notfall auch direkt DRK-Teams, wenn jemand etwas blass oder hilflos aussieht. Wie beim Hurricane im vergangenen Jahr. Und: Die Künstler*innen und Bands passen ebenfalls geradezu fürsorglich auf ihr Publikum auf. Ist das das neue Rock’n’Roll-Feeling? Falls ja, eine sehr zu begrüßende Entwicklung!
Ein letztes Flanieren auf dem Gelände
Und so schlendere ich weiter, vorbei an glücklichen, teils betrunkenen, manchmal nervigen, dann aber auch inspirierend friedlichen Festivalbesucher*innen, die zum Beispiel bei Clueso abfeiern. Eine meiner schönsten Festival-Erinnerungen überhaupt aus früheren Zeiten: ein Incubus-Konzert, bei dem ich einfach auf dem Rasen sitzend entspannt zugeschaut habe. Kein Tanzen, kein Stehen, einfach nur herrliches Sitzen. Das will ich jetzt auch - und so hocke ich mich bei Frank Turner und seiner Begleitband The Sleeping Souls hin und lasse die Show geschehen, so wie ich auch später das Konzert von Loyle Carner einfach allumfassend genieße, in Ruhe, ohne von einer zur anderen Bühne zu rennen.
Ein seltsames Schauspiel bei The 1975
Später schauen wir bei The 1975 vorbei: Die Band um Sänger Matt Healy ist von Platte zu Platte größer geworden, mittlerweile sind sie auf Headliner-Level. Als Healy auf die Bühne kommt, bin ich mir nicht sicher, ob er schauspielert: Er torkelt mit Flachmann und Zigarette über die Bühne, singt, raucht, lässt sich in einem extra bereitgestellten Sessel plakativ nieder, um dann mit dem Schwanken aufzuhören und nüchtern über die Bühne zu tänzeln und dann anschließend wieder vermeintlich betrunken mit zwei Flaschen Wein rumzuwanken. Naja. Auch wenn der On-/Off-Ex-Boyfriend von Taylor Swift betont, dass er aus der Nähe von Manchester kommt - für mich ist das hier dann doch schnöder Bausparer-Pop statt rebellischem Rock.
Hoch hinaus: mein Abenteuer auf dem Riesenrad
Von dort aus gehe ich zu einer Art Nahtoderfahrung: Relativ großspurig hatte ich mir gewünscht, für den Vlog Riesenrad zu fahren. Da hatte ich aber anscheinend nicht so richtig hingeschaut; die Gondeln des Hurricane-Riesenrades sind "Cabrios", also nicht geschlossen wie beispielsweise beim London Eye, und dass ich nicht so gut mit Höhe klarkomme, hatte ich dann auch vergessen. Was mir vorher ebenfalls keiner erzählt hat, ist, dass ich für ein Fünf-Euro-Ticket stolze drei Runden bekomme. Während ich also von meinen Beifahrerinnen ausgelacht werde und die Gravitation verfluche, konzentriere ich mich auf feste Gegenstände am Horizont, wie beispielsweise Queens Of The Stone Age auf der Hauptbühne. Von oben sieht das alles schön, ordentlich und harmlos aus - aber ich bin echt froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben!
Alte Lieblinge: Placebo
Später schauen wir uns den Wüstenrock von Queens Of The Stone Age auch aus der Nähe an Fazit: Es ist okay. Viel mehr freut sich die Truppe, die sich um mich als vorausschlurfenden Chronisten gescharrt hat, auf Placebo. Wer sich noch an den Blog von gestern erinnert, Stichwort Muse, hier ein Fun Fact: Beim selben Festival im Jahr 2000 habe ich auch Placebo gesehen. Seitdem ist bekanntermaßen viel Zeit vergangen, die Band hatte viele Hits in ihrer Karriere - auf die sie während der ersten Hälfte ihres Auftritts weitestgehend verzichtet.
Doch nach und nach hauen Brian Molko und Stefan Olsdal plus Begleitband die Songs raus, die ich wirklich gut finde: Zum Beispiel "Special Needs", "Infra-Red" oder "Slave To The Wage", das ich schon 2000 beim Bizarre Festival super fand. Der absolute Knaller sind dann aber zwei Cover gegen Ende: Einmal "Shout" (von Tears For Fears, wie geil ist das denn!) und dann von Kate Bush "Running Up That Hill". Das Original von Kate Bush hat ja ein großes Revival bekommen, hier ist es ein schöner Abschluss des Placebo-Konzerts.
Das Finale mit den Ärzten
Was bei Placebo allerdings auffällt: Viele machen sich schon auf den Weg zur Hauptbühne. Die Ärzte (aus Berlin!) bilden das große Finale hier beim Hurricane Festival. Ein bisschen schaue ich mir BelaFarinRod an, die mir tendenziell grundsympathisch sind. Doch jetzt, also nachdem ich seit Donnerstag bis tief in die Nacht auf den Äckern von Scheeßel rumgehangen, getippt und laut Schrittzähler 58.877 Schritte hinter mir habe (nicht einberechnet: das Stehen bei den Konzerten), ich mit meinem nordenglischen Teint zudem von der Sonne etwas gargekocht bin, entscheide ich mich, nur ein paar Ärzte-Songs anzuhören.
Vielleicht sind mir die Ansagen der drei heute auch zu doof, für die sie ja eigentlich bekannt sind. Gute Band, Herz am richtigen Fleck und so, heute aber eher mittellustig. ABER: Das Publikum scheint trotzdem happy, soweit ist also alles in Ordnung, als ich mich dann recht zeitnah auf den Rückweg mache, ein letztes Mal auf meine Laptoptastatur eindresche - und das Hurricane Festival 2023 für beendet erkläre.
Das Fazit: ein gelungenes Hurricane 2023!
So, war doch ein gelungenes Hurricane Festival, oder? Wobei, eins brennt mir noch auf der Seele. Bandshirts sind ein Statement - das weiß ich, dessen Kleiderschrank quasi nur mit Merch-Produkten gefüllt ist, sehr gut. Daher hat es mich erschreckt, doch auch Leute in Rammstein-Shirts gesehen zu haben, nachdem die letzten Wochen voll mit bestürzenden Nachrichten um die Band waren. Aber nun, wer bin ich, darüber zu urteilen? "Woke" ist hier bei so manchem Festivalgänger vielleicht doch noch nicht angekommen. Schade, ist aber so, kann sich aber vielleicht noch ändern.
Mir war es wichtig, dass es - wie die Ausgabe im von mir so positiv friedvoll wahrgenommen vergangenen Jahr - ein friedliches Hurricane Festival werden würde. Und das war es, sowohl auf Publikumsseite als auch bei den Künstler*innen. Mein Wunsch hat sich erfüllt; gute Konzerte gab es natürlich auch. Casper, Kraftklub, Placebo, aber auch etwas kleiner wie Loyle Carner oder Edwin Rosen - ich bin zufrieden! Und trotzdem, ich würde dann jetzt wirklich gern gehen. Nichts für ungut, aber das Bett zuhause ist doch am besten, oder nicht? Vorvorletzter Satz mit einer letzten gehaltvollen Info: Der Vorverkauf für das Hurricane Festival 2024 startet am Dienstag! Ich danke jedenfalls allen, die meine Zeilen gelesen haben - vielleicht liest man sich ja wieder. In diesem Sinne: Bis bald!