US-Dirigentin Karina Canellakis über ihr Konzert in der Elbphilharmonie
Die US-Musikerin Karina Canellakis hat das NDR Elbphilharmonie Orchester zu Britten, Schostakowitsch und Beethoven dirigiert. NDR Kultur hat im Vorfeld mit ihr gesprochen.
Karina Canellakis, derzeitige Chefdirigentin des Netherlands Radio Philharmonic Orchestra, hatte einst einen bekannten Ratgeber: Sir Simon Rattle ermutigte die Violinistin zum Dirigieren. Es war der Startschuss für eine steile Karriere. 2019 leitete sie als erste Frau überhaupt das Eröffnungskonzert der BBC Proms und in der Saison 2023/24 ehrt der renommierte Wiener Musikverein die Dirigentin als Artist in Residence. Nun kehrt Karina Canellakis zum NDR Elbphilharmonie Orchester zurück, bei dem sie bereits 2020 ihr Debüt gab. Das Programm, das die 42-jährige US-amerikanische Dirigentin griechisch-russischer Abstammung für diesen Anlass erstellte, ist von einem tiefen Friedenswunsch beseelt.
Karina Canellakis, vor vier Jahren haben Sie Ihr Debüt beim NDR Elbphilharmonie Orchester gefeiert, nun gibt es ein Wiedersehen. Wie waren Ihre Eindrücke in der ersten Probe?
Karina Canellakis: Es ist ein besonderes Gefühl, wieder hier in Hamburg zu sein - in diesem wunderschönen Saal. Ich liebe dieses Orchester. Wir haben ein sehr schönes Programm vor vier Jahren zusammen gespielt. Wir hatten sofort eine schöne Beziehung und unsere musikalische Kommunikation war ganz offen, wir haben mit viel Emotion gespielt. Wir haben damals auch Beethoven gespielt.
Sie haben das Orchester erstmals dirigiert, ein halbes Jahr nachdem Alan Gilbert Chefdirigent geworden ist. Gilbert hat das Orchester neu aufgestellt, hat in den vergangenen viereinhalb Jahren viel mit dem Orchester gearbeitet, am Klang gefeilt, am "Flow", wie er sagt. Der musikalische Fluss ist ihm wichtig. Hat sich das Orchester entwickelt, können Sie das schon nach einer Probe sagen?
Canellakis: Ja, ich würde sagen, dass Gilbert seinen Stamp (Deutsch in etwa: seinen Stempel) auf dieses Orchester gemacht hat. Die spielen selbstbewusst, sind sehr sensibel. Ich kann sehen und hören, dass sie daran gewöhnt sind, mit allen zu spielen.
Woran erkennen Sie das?
Canellakis: Ich kenne alle sehr gut. Ich weiß, dass Alan Gilbert viel Partitur vom Herzen macht. Das heißt, er guckt den Musikern viel in die Augen. Die Musiker im Orchester gucken mir auch ins Gesicht, die sind nicht nur in den Noten drin. Das finde ich auch sehr schön. Ich arbeite eh viel mit Blickkontakt.
Die drei Konzerte, in denen Sie das NDR Elbphilharmonie Orchester in Hamburg und Bremen dirigieren, stehen unter dem Titel "Wider dem Krieg" - eine Friedensbotschaft zu Jahresbeginn. Hierzu haben Sie drei Werke ausgewählt, gleich für den Konzertbeginn Benjamin Brittens Sinfonia da Requiem, ein gewaltiges Orchesterstück, das Britten mit 26 Jahren geschrieben hat. Warum haben Sie gerade dieses Stück ausgewählt?
Canellakis: Dieses Stück hat viel Kraft und viel Emotion. Ich liebe Peter Grimes, seine große Oper und die Klangfarben und die Besetzung. Es ist ein riesengroßes Orchester. Wir haben sechs Hörner, wir haben auch ein Saxofon. Die Pauke spielt dann eine wichtige Rolle. Es ist ein Werk mit viel Gewicht. Am Anfang hört man sofort die Brutalität. Aber dann gibt es auch am Ende dieses Requiem. Es ist ein Call for Peace, es war ein wichtiges Stück für ihn.
Ein ebenso wichtiges Stück auch als Werk gegen Unterdrückung und Gewalt ist Schostakowitschs erstes Cellokonzert, er hat jahrzehntelang unter dem sowjetischen Regime gelitten. Damit hat er sozusagen mit dem Stalin-Regime abgerechnet. Wie würden Sie dieses Cellokonzert einordnen?
Canellakis: Alle Werke von Schostakowitsch haben eine wichtige Beziehung mit der Zeit. Ob es ein Antikriegsstück ist oder nicht - Schostakowitsch hat viel zu sagen. Das Cellokonzert ist ein virtuoses Stück. Es ist nicht nur, dass die Musik etwas Besonderes beschreibt. Es hat keine Worte, keine direkte Nachricht. Es ist mehr: Das Solo-Horn und das Solo-Cello spielen eine wichtige Rolle mit Virtuosität, mit Kraft - mit ausdrucksvollem, begeisterten Klang und Geschwindigkeit. Dieses Werk ist ein Klassiker. Deswegen wird es so oft gespielt.
Solist ist der österreichische Cellist Kian Soltani. Haben Sie mit ihm schon einmal ein Konzert gegeben?
Canellakis: Ja, wir haben einmal zusammen gespielt. Das Schumann-Cellokonzert mit meinem Orchester in Amsterdam. Es war sehr schön. Er ist ein super Cellist und sehr nett.
Zum Abschluss des Konzerts dirigieren Sie Beethoven. Nach zwei progressiven Werken aus der Mitte des 20. Jahrhunderts nun einen Klassiker des frühen 19. Jahrhunderts - aber damals ebenfalls progressiv. Alan Gilbert hat mal, gesagt Beethoven klingt immer aktuell, immer früh ...
Canellakis: ... das stimmt, Beethoven never gets old. Beethovens siebte Sinfonie ist besonders frisch und besonders uplifting. Es hat eine Wahnsinns-verrückte Energie. Das geht sofort ins Herz, in den ganze Körper von jedem, der im Publikum sitzt. Dieser letzte Satz ist so verrückt. Er wollte so viel Energie durch das ganze Stück haben, bis zum Ende. Wir haben immer Spaß, als Mitglieder im Orchester oder als Dirigentin, um diese Details zu erarbeiten, um etwas Neues zu finden, weil jede Interpretation ganz anders ist.
Jeder Dirigent hat seine eigene oder ihre eigene Interpretation und Gedanken. Wie lang die Noten sein müssen, wie die Phrasierung, wie leise, wie laut. Wir spielen mit kleineren Pauken, damit der Klang ein bisschen trockener und härter ist und dadurch eine scharfe Artikulation erhält. Wir spielen auch mit einer kleineren Streicherbesetzung. Das heißt, wir haben nur zwölf Erste Geigen, nicht 16, wie beim Stück von Benjamin Britten.
Beethoven spielen wir in einer kleineren Besetzung, damit es einen energischen, leichten Flow hat. Das ist wichtig für Alan Gilbert. Es ist auch für mich sehr wichtig, dass es besonders im zweiten Satz nicht zu langsam oder altmodisch ist. Wir haben immer das Gefühl, dass Beethoven es gestern komponiert hat. Und niemand weiß, was kommt. Das ist schön.
Wenn der Schlussbeifall vorbei ist: Was ist für Sie ein gelungenes Konzert?
Canellakis: Dass wir mit Top-Energie spielen. Alles muss zusammen klingen. Die Intonation muss gut sein, die Klangqualität ist für mich sehr wichtig. Die Farben sind wichtig, das Pianissimo ist leise. Es ist sehr, sehr leise. Es ist schwierig für ein Orchester, leise zu spielen.
Laut ist einfach, aber leise ist sehr schwer. Meine Priorität ist: Es muss zusammen Spaß machen. Dieser Beruf fordert viel von uns, und wir geben unser ganzes Leben und unsere Musik. Am Ende müssen wir Spaß finden, es genießen. Das ist für mich sehr wichtig, dass ich diese Freude mit meinen Kollegen teilen kann.
Das Gespräch führte NDR Musikredakteur Stephan Sturm.