75 Jahre Vinyl: Kurzfristiger Retrohype oder Wiederbelebung?
Die Langspielplatte veränderte vor 75 Jahren schlagartig die Musikindustrie. Obwohl sie in der digitalen Welt lange Zeit verschwand, prägt sie die Musikszene bis heute und ist "einfach nicht totzukriegen".
Heutzutage reicht ein Klick auf die Handy-App, ein weiterer auf Play und schon begleitet uns die eigene Lieblingsmusik. Überall, zu jeder Zeit und am besten noch durcheinander, damit keine Langeweile entsteht. Thomas Perkuhn legt zum Musikhören lieber eine Schallplatte auf. "Und dann hört man wirklich 20 Minuten ohne Skipping oder sonstige Unterbrechungen, hört das so in der Reihenfolge, wie der Künstler sich das vorgestellt hat", sagt der 2. Museumsvorsitzende des Deutschen Schallplattenmuseums in Nortorf. Was heute ermüdend klingt, war vor 75 Jahren eine großartige Innovation.
Eine Platte für jede Lebenslage
Bevor die erste Langspielplatte am 21. Juni 1948 bei Columbia Records das Licht der Welt erblickte, fassten die alten Platten aus Schellack gerade mal drei Minuten Spielzeit. Das schwarze Granulat aus Polyvinylchlorid, kurz Vinyl, veränderte alles. Plötzlich konnten Symphonien und ganze Alben genussvoll gehört werden, ohne dass man ständig aufstehen und die Platte wechseln musste. Eine Museumsbesucherin erinnert sich: "Das ist ja die Grundlage für die Speicherung so vieler wahnsinnig schöner Musiksachen für Millionen und Abermillionen Leute. Das hätten wir sonst so nicht gehabt." Egal ob fürs erste Rendezvous, von DJs im Nachtclub oder mit Freunden am Strand: Überall wurde Vinyl aufgelegt und veränderte das Leben von Künstlern und Hörenden.
Knochenarbeit für die Musik
Wie sehr der Boom einschlug, zeigt das Schallplattenmuseum in Nortorf, der ehemalige Produktionsstandort der Plattenfirma Teldec. Dort standen 52 Pressen, die über 40 Jahre insgesamt 850 Millionen Platten pressten. Tagesration einer Presse: ein drei Meter hoher Plattenstapel. Als Schüler besuchte Thomas Perkuhn die Produktionshalle. "Das war laut und heiß und der Herr, der die Pressen bedient hat, war am Schwitzen und stand da nur im Unterhemd. Das war wirklich Knochenarbeit." Wie ein Eishockeypuck wurde das schwarze Granulat in eine Presse gelegt und dann mit dem Druck einer Dampflok zur beliebten Vinylplatte gepresst. Jede 200. Platte musste hochkonzentriert abgehört werden.
Analog out - digital in
Aber so sehr das schwarze Vinyl gefeiert wurde, es hatte auch seine Nachteile. Die Scheiben zerkratzen leicht, bei Hitze verformen sie sich und wer eine Party schmeißen wollte, musste den Kofferraum allein für Platten und Plattenspieler opfern. Mit Erfindung der CD Anfang der 80er war analog plötzlich out und die Streamingdienste schafften physische Musikträger schließlich vollständig ab. Ein Knopfdruck und Musik war überall verfügbar. Nur das Wort Album erinnerte noch an die großen schwarzen Platten, die in Büchern ähnlich wie Fotoalben aufbewahrt wurden. Aber irgendetwas fehlte. Sind endloses Streamen und Shufflemodus zu beliebig?
Plattenhören ist wie ein Ritual
"Wenn wir früher was gefunden haben im Schallplattenladen, dann hat man seinen Freunden Bescheid gesagt und gemeinsam diese Schallplatte gehört. Nicht vorspulen, nicht zurückspulen, sondern das Ding einmal durchhören", erzählt ein Museumsbesucher. Auch für seinen 20-Jährigen Sohn ist das Plattenhören "wie ein Ritual". In seinem Freundeskreis ist er schon der Dritte mit einem Plattenspieler. Auch andere Besucher erfreuen sich an der Haptik. "Dass man die Platte in die Hand nimmt, das ist wie mit dem Buch, ein anderes Empfinden", sagt eine. Selbst die Kratzer hätten manche so verinnerlicht, dass sie etwas vermissen, wenn die Lieblingsstücke von damals heute makellos im Radio laufen.
"Plattenverkäufe nehmen langsam wieder Fahrt auf und irgendwie beweist die Entwicklung, dass die LP nicht totzukriegen ist.", sagt Thomas Perkuhn. Aus seiner Überzeugung wird die Kurve zum 100. Jubiläum noch ein Stückchen weiter oben sein. Die Schallplatte ist eben mehr als Musik. Sie verlangt, dass Du vom Sofa aufstehst und sich ihr bewusst widmest.