Skulptur "Himmelsstürmer" auf der documenta IX © picture alliance / imageBROKER | Stefan Ziese Foto: Stefan Ziese

documenta: 2023 - Aufregendes Jahr für die Weltkunstschau

Stand: 26.12.2023 11:32 Uhr

Vieles steht bei der Weltkunstausstellung in Frage. Nach den Skandalen der letzten Monate ist es jetzt offen, ob die 16. Ausgabe der documenta überhaupt wie geplant 2027 stattfinden kann. Ein Rückblick.

von Tanja Küchle

Krisen und Skandale kannte sie immer, doch seitdem sich die documenta in der Folge als Weltkunstausstellung etabliert hat, stand sie wohl noch nie so sehr in Frage wie jetzt. Entsprechend erhitzt waren die Gemüter in einem Symposium Mitte November 2023: "Mein Name ist Bertram Hilgen. Ich war zwölf Jahre Oberbürgermeister und in dieser Eigenschaft Aufsichtsratsvorsitzender der documenta - und ich mache mir Sorgen um die documenta."

Ein Hauptgrund für die Sorgen des ehemaligen Kasseler Oberbürgermeister Hilgen (SPD): der Rücktritt der Findungskommission. Sie sollte eigentlich eine künstlerische Leitung für die kommende documenta 16 finden. Doch als Antisemitismus-Vorwürfe gegen ein Mitglied der Kommission aufkommen, ziehen es letztendlich alle sechs Mitglieder vor, zurückzutreten. "Unter den jetzigen Umständen glauben wir nicht, dass es für Künstler*innen und Kurator*innen in Deutschland Raum für einen offenen Austausch von Ideen und die Entwicklung eines komplexen und nuancierten künstlerischen Ansatzes gibt," heißt es in ihrer Erklärung.

Weitere Informationen
Schild mit der Aufschrift "documenta fifteen" © picture alliance / Fotostand | Fotostand / Lammerschmidt

Grenzen der Kunstfreiheit: emotionales documenta-Symposium

Hessens Ministerin Dorn brachte es auf den Punkt: Die Zukunft der documenta ist nicht mehr von der schmerzhaften Realität zu trennen. mehr

documenta: Kunstfreiheit auf dem Prüfstand

Es war ein Paukenschlag und traf die Verantwortlichen der documenta-gGmbH hart. Mit Kopfschütteln reagierte die Frankfurter Politologin Nicole Deitelhoff, die zum wissenschaftlichen Beirat der documenta gehört: "Wenn in diesem Schreiben teilweise suggeriert wird, dass man in Deutschland nicht mehr frei und differenziert generell über Kunst und auch Fragen des Verhältnisses beispielsweise zu Israel sprechen könnte, sehe ich das nicht. Es sei denn, man würde sagen, dass wir Israel-Feindlichkeit und Antisemitismus als Ausdruck von Freiheit verstehen müssten, das tun wir in Deutschland aus sehr, sehr guten Gründen nicht."

Es steht Kunstfreiheit gegen Antisemitismus. Der Streit ist nicht neu. Die Antisemitismus-Vorwürfe verfolgen die documenta seit der letzten Ausstellung 2022. Mitgliedern des indonesischen Kuratorenteams, dem Künstlerkollektiv Ruangrupa, wurde eine Nähe zur BDS-Initiative nachgewiesen, die als antisemitisch gilt, ebenso einigen teilnehmenden Künstlern. Zudem wurden mehrere eindeutig antisemitische Kunstwerke auf der vergangenen documenta 15 identifiziert.

Weitere Informationen
Andreas Hoffmann © picture alliance/dpa/documenta und Museum Fridericianum gGmbH | Götz Wrage

documenta-Chef Hoffmann: "Wir müssen Vertrauen neu aufbauen"

Die documenta steht ohne Findungskommission für die Künstlerische Leitung da. Andreas Hoffmann, Geschäftsführer der Kunstmesse, äußert sich zu den Vorgängen. mehr

Aufgeheiztes Debatten-Umfeld

Um die gründliche Aufarbeitung zu gewährleisten, wurde nicht nur ein neuer Geschäftsführer der documenta-gGmbH bestellt, der erfahrene Kulturmanager Andreas Hoffmann, es wurde auch eine externe Beraterfirma beauftragt, die in Zusammenarbeit mit der Politologin Nicole Deitelhoff kürzlich einen Abschlussbericht vorgelegt hat. Hoffmann resümiert schon vor der Veröffentlichung des Berichts: "Eben mit Hilfe der vielen Instrumente und Ergebnisse und Empfehlungen, die die Organisationsentwicklung uns an die Hand gibt, nun tatsächlich zu schauen, wie wir einerseits die Kunstfreiheit auf jeder documenta auch sicherstellen, andererseits aber eben auch natürlich gegen Diskriminierung und Antisemitismus klar vorgehen und wie wir die Organisationstrukturen insgesamt Krisen resilienter machen."

Die Frage ist: Schafft man das bis zum geplanten Termin der nächsten documenta, also 2027? Oder muss die Weltkunstschau tatsächlich verschoben werden? Und wird man in diesem aufgeheizten Debatten-Umfeld überhaupt noch geeignetes Personal finden, das die Arbeit der Findungskommission übernehmen möchte? Kassel als Austragungsort steht dagegen nicht in Frage. Das versicherte der Oberbürgermeister Sven Schoeller (Grüne) inzwischen mehr als einmal. "Die documenta löst die Probleme der Welt nicht, sie zeigt sie nur auf. Und weder die Welt noch die documenta steht vor dem Untergang", so Schoeller im vergangenen November. Es klingt wie eine Beschwörung.

Weitere Informationen
Nicole Deitelhoff © picture alliance / Flashpic Foto: Jens Krick

Documenta 15: "Keine Sensibilität für das Thema Antisemitismus"

Ein Experten-Gremium hat den Antisemitismus-Skandal um die documenta untersucht. Ein Gespräch mit der Untersuchungsleiterin Nicole Deitelhoff. mehr

Besucher der documenta fifteen sitzen auf den Stufen des Fridericianums. © picture alliance Foto: Uwe Zucchi

Antisemitismus auf der documenta: "Ignoranz und Verharmlosung"

Ein Expertengremium wirft der documenta-Leitung in seinem Abschlussbericht gravierende Fehler vor und sieht große strukturelle Probleme. mehr

Skulptur "Man walking to the sky" © picture alliance / imageBROKER | Stefan Ziese Foto: Stefan Ziese

NachGedacht: Kunst unter dem Druck der Zeit

Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die Welt durch einen unübersichtlicher Krieg verändert, auch mit Folgen für das Kulturleben hierzulande. mehr

Das Schiff des documenta-Projekts "citizenship" liegt vor einer Probefahrt im Hafen. © picture alliance/dpa/Fabian Sommer Foto: Fabian Sommer

Documenta-Floß bleibt wohl vorerst in Rinteln

2022 musste das Kunstprojekt "citizenship" die Reise nach Kassel wegen Niedrigwassers abbrechen. Seine Zukunft ist unklar. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 26.12.2023 | 11:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Ausstellungen

Ein leerer Bilderahmen hinter Polizei-Absperrband. © NDR Foto: Foto: [M] Aleksandr Golubev | istockphoto, David Wall | Planpicture

Kunstverbrechen - True Crime meets Kultur

Lenore Lötsch und Torben Steenbuck rollen spektakuläre Kunstdiebstähle auf. Sie nehmen uns mit an Tatorte, treffen Zeugen und Experten. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Eine Frau mit langen dunklen Haaren, die zu einem Zopf gebunden sind, steht auf der Bühne, hält ein Mikrofon in der Hand und singt. Es ist die US-amerikanische Sängerin Beth Hart. © picture alliance / Ritzau Scanpix | Helle Arensbak Foto: Helle Arensbak

Beth Hart in Hannover nur vor halbvollem Haus

US-amerikanische Blues- und Rocksängerin heizt dem Publikum ein, doch sie spricht auch über bipolare Störungen und Drogensucht. mehr

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage zum Fachkräftemangel: Müssen wir alle länger arbeiten?