Grenzen der Kunstfreiheit: emotionales documenta-Symposium
Lange war die Veranstaltung zur Zukunft der documenta nach dem Antisemitismus-Eklat im vergangenen Jahr geplant gewesen. Doch von dem aktuellen Nahost-Konflikt lässt sich die Diskussion nicht mehr trennen.
"Ich möchte etwas versuchen, das sehr persönlich ist. Ich wäre dankbar, wenn sie ein paar Sekunden des Schweigens mit mir teilen, um der ermordeten und entführten Opfer in Israel zu gedenken." Die aus Israel angereiste Kuratorin Sari Golan erwähnte die Namen vier ihrer Familienmitglieder, die Opfer der Hamas-Attacke am 7. Oktober geworden sind und hat gleich zu Anfang damit einen der berührendsten Momente dieses emotionalen Abends initiiert.
Kunstministerin Angela Dorn findet klare Worte
Schon zuvor hatte Angela Dorn, Hessens Ministerin für Wissenschaft und Kunst, auf den Punkt gebracht, was schließlich diesen Abend prägen sollte: Die Grundsatzfrage hinsichtlich der Zukunft der documenta ist nicht zu trennen von der schmerzhaften Realität, und wie man in Deutschland seit dem 7. Oktober damit umgeht.
"Damit Sie mich nicht missverstehen: Auch mich schmerzt das Leid in Gaza, ich trauere um alle Opfer", sagte die Ministerin. Aber warum sei es für so viele Intellektuelle nicht möglich, das bestialische Morden der Hamas klar zu verurteilen? Das Selbstverteidigungsrecht Israels klar auszusprechen? Ohne ein Aber noch im selben Atemzug, ohne schon in der nächsten Sekunde über den Kontext zu sprechen. "Sie - und alle Jüdinnen und Juden - erwarten von uns zurecht heute einen Konsens, einen Konsens der bedeutet: Nie wieder! Denn nie wieder ist jetzt!"
Historiker Meron Mendel zeigt Dilemma auf
Was für eine Herausforderung nach so ergreifenden Worten eine Debatte auf einer Meta-Ebene zu führen. Kunstfreiheit, intellektuelle Grenzüberschreitungen, Denkverbote. Meron Mendel, israelisch-deutscher Historiker und Pädagoge, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, saß mit auf dem Podium und schaffte es an einem der wenigen Momente des Abends, in denen es tatsächlich um die documenta ging, das Dilemma der Künstlerinnen und Künstler zu formulieren, mit denen er persönlich in Kontakt steht.
"Es gibt Druck von beiden Seiten", sagte Meron Mendel. In Gesprächen mit Künstlerinnen und Künstlern erfahre er von der herrschenden 'Cancel Culture'. Niemand dürfe sich zu empathisch zu den Positionen der palästinensischen Seite äußern und auch nicht zu empathisch auf die israelische Seite schlagen.
Die Rahmenbedingungen für das documenta-Symposium an diesem Wochenende waren ohnehin nicht leicht: Nach der andauernden Diskussion um Antisemitismus-Vorwürfe ist die Findungskommission, deren Aufgabe es war, eine künstlerische Leitung der kommenden Ausgabe der Weltkunstausstellung zu finden, Ende vergangener Woche komplett zurückgetreten.
Vor dem Hintergrund der entsetzlichen Situation im Nahen Osten, vor dem Hintergrund des Risses, der mit der Antisemitismus-Debatte durch unsere deutsche Gesellschaft geht, war es jedoch kaum möglich, eine Meta-Ebene zu finden, auf der die Verantwortung von Kunst und Kultur diskutiert werden kann.
Heinz Bude, der Gründungsdirektor des documenta Instituts, hatte die herausfordernde Aufgabe, diesen für zwei Stunden angesetzten Abend zu moderieren. Mit ihm auf dem Podium saß neben Meron Mendel Nicole Deitelhoff, Friedens- und Konfliktforscherin und Leitung der Kommission zur Aufarbeitung der Antisemitismus-Vorfälle auf der documenta fifteen.
Wertfreie Position scheint unmöglich
Erst nach über einer Stunde politischer Diskussion gelingt es Heinz Bude, seine Gesprächspartner ganz konkret auf Fragen zur documenta anzusprechen. Zum Beispiel auf die Rücktrittserklärung der Mitglieder der Findungskommission.
Die Unmöglichkeit, im Moment wertfreie Position zu beziehen, wurde darin als einer der Gründe genannt. Nicole Deitelhoff hatte eine eindeutige Antwort. "Wie soll man denn in so einer aufgeheizten und polarisierenden Debatte noch vernünftig zu einer Findung gelangen? Wenn jedes Wort, das man sagt, jeder Grund, den man anführt, immer schon in Zweifel gezogen wird", fragte die Friedensforscherin Deitelhoff.
Ablehnung von Antisemitismus ist nicht verhandelbar
Zugleich berichtete sie von einer ganz anderen Strömung in der Diskussion, nämlich dass man ein bisschen Antisemitismus zulassen müsse, "damit die Kunst sozusagen vollkommen frei diskutiert werden kann." "Da ist bei mir die Grenze erreicht", stellte sie klar. Sie verstehe die Ablehnung von Antisemitismus als Grundbedingung, um am freiheitlich-demokratischen Leben in diesem Land teilzunehmen und Beachtung der Menschenwürde.
In der Fragerunde am Ende war der Wunsch des Publikums nach einem Hoffnungsschimmer zu spüren, nicht nur für die documenta, sondern als Orientierungshilfe in diesen schwierigen Zeiten. Es gab teils aufgebrachte Zwischenrufe, bei polarisierenden Statements - und immer wieder ganz konkrete Fragen zu politischen Lösungen, trotz des eigentlich doch auf die Kunst beschränkten Rahmens. "Wir haben nicht über Politik gesprochen", sagte Bode. Es sei ein Versuch gewesen, sich intellektuell zu nähern.
Doch Nicole Deitelhoff und Meron Mendel wollen Position beziehen. "Ich denke, dass es ok ist über Zweistaatenlösung zu diskutieren, nüchtern nach unseren bescheidenen Möglichkeiten", sagte der Historiker Mendel. Am Ende fasst Nicole Deitelhoff den Abend, der eigentlich der Zukunft der documenta gewidmet war, zusammen: "Die Diskussion, die wir haben, wird nicht morgen beendet sein. Selbst wenn wir sagen: Alles ist möglich, werden sie niemanden finden, der morgen die Kuration übernimmt. Wir können nicht einfach wegzaubern, was am 7. Oktober passiert ist."