NachGedacht: Kunst unter dem Druck der Zeit
Je länger Kriege dauern, desto diffuser und verzerrter werden auch die Haltungen dazu. Uneindeutigkeit wird flankiert von großen Gefühlen und Indifferenz. Der Pianist Igor Levit, so sagt er in Interviews, ist enttäuscht, fühlt sich alleingelassen, ist wütend und verzweifelt über die Passivität und Empathielosigkeit in Deutschland.
Regula Venske, Generalsekretärin des internationalen Schriftstellerverbandes PEN, hat ihren Rücktritt erklärt, weil Statements des Londoner PEN-Sekretariats zu den Ereignissen im Nahen Osten ohne ihr Wissen verschickt worden waren. Auch sie beklagt den "Mangel an Empathie für die israelischen Opfer des Hamas-Massakers" und ist "zutiefst schockiert und deprimiert".
Erneute Unruhe bei der documenta
Letzte Woche erneute Unruhe bei der documenta in Kassel. Die israelische Künstlerin und Psychoanalytikerin Bracha Lichtenberg Ettinger, Mitglied der sechsköpfigen Findungskommission, hatte in Anbetracht des Krieges in ihrem Land um eine Verlangsamung der Arbeitsprozesse gebeten. Ein Wunsch, der ihr nicht gewährt wurde. Befremdlich genug.
Fall zwei: Dem indischen Kurator Ranjit Hoskoté wurde eine Nähe zur anti-israelischen Kampagne BDS nachgewiesen. Er scheute die Auseinandersetzung und trat wie Lichtenberg Ettinger zurück. Wenige Tage später schließlich kollektiver Rücktritt der noch verbliebenen Kommission. Die Begründung: In Deutschland gäbe es derzeit keinen "Raum für einen offenen Gedankenaustausch und die Entwicklung komplexer und nuancierter künstlerischer Ansätze".
"Künstler sind nicht dazu da, die Politik zu dekorieren"
Verunsicherung in der Kunst- und Kulturszene. Ein rauer Ton durchzieht das Land, Standpunkte sind unbeweglich, Meinungen starr. Für Gespräche, Debatten und Diskurse braucht es geschärfte und valide Argumente, die nicht daher geplappert sind, sondern die Hand und Fuß haben. Und natürlich braucht es für all das eine entsprechende Atmosphäre.
Ich bleibe noch einen Moment bei der documenta, bei Bracha Lichtenberg Ettinger. In ihrer Rücktrittsbegründung hatte sie auch geschrieben: "Die Kunstwelt, wie wir sie uns vorgestellt haben, ist zusammengebrochen und zersplittert. (…) Was kann die Kunst in unseren dunklen Zeiten bringen?" Damit, so verstehe ich sie, meinte sie keinesfalls, dass die Kunst in Kriegszeiten sinnentleert und sprachlos ist. Sie braucht aber Zeit, um Gedanken zu sortieren, um aus der Sprachlosigkeit des Entsetzens zu finden. Denn, so Lichtenberg Ettinger, "Künstler sind nicht dazu da, die Politik zu dekorieren".
Claudia Roth sollte ihren Einfluss nutzen
Claudia Roth sollte diesen Satz laut gehört haben, ihren Einfluss nutzen, den sie als Kulturstaatsministerin hat und sich ihren Hausaufgaben, auch in Kassel widmen. Ohne nur effektsicher mit Geldentzug zu drohen oder gar die Kunstfreiheit beschränken zu wollen.
Wenn es politischem Handeln gelingt, der Kunst, der Kultur insgesamt, einen Raum für Ruhe, Besonnenheit, für Kernkompetenz zu geben, dann wäre viel gewonnen.