Leben nach der Sturmflut: Wie schützt sich Hamburg seit 1962?
Wie wappnet sich Hamburg heute gegen Sturmfluten? Wie hat sich der Hochwasserschutz seit 1962 verändert? Und wie ist die Hansestadt für die ansteigenden Meeresspiegel durch den Klimawandel gerüstet?
Ein Gespräch mit Olaf Müller, dem Leiter des Geschäftsbereichs Gewässer und Hochwasserschutz beim Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer in Hamburg.
NDR.de: Herr Müller, kann sich eine Katastrophe wie die Sturmflut von 1962 in Hamburg wiederholen?
Olaf Müller: Da muss man zunächst fragen, was die Ursache der Katastrophe von 1962 war. Ursache war vor allem, dass Form, Aufbau und Höhe der Deiche nicht ausreichten. So hatte man damals beispielsweise zu steile Böschungen. Auch der Aufbau war anders. Heute haben die Deiche einen dichten Kleimantel von mindestens einem Meter Stärke. Die Welle läuft auf dem Deich auf und die Grasnarbe und der Klei - das ist bindiger Boden - verhindern, dass das Material erodiert. Letztendlich aber waren die Deiche 1962 vor allem deutlich zu niedrig. Es war also gar nicht zu verhindern, dass sie überströmt wurden.
Des Weiteren waren zuhauf Häuser und Bäume im Deich. An diesen Punkten - zwischen einem festen Einbau und dem vergleichsweise unfesten, lockeren Erdboden - entstanden Ausspülungen und dann Erosion. Zugleich gab es keine Deichverteidigungsstraßen, so dass man mit Material und Menschen nur schwer herankam. Heute haben die Deiche in Hamburg durchgängig 5,50 Meter breite Deichverteidigungsstraßen und darüber hinaus einen so genannten Lagerstreifen, wo man beispielsweise Material abstellen kann. Das Technische hat sich also sehr verändert. Damals fehlten außerdem Erfahrungen mit sehr schweren Sturmfluten, da die letzte große Sturmflut 1855, also 107 Jahre vorher, gewütet hatte. Infolge der Katastrophe vollzog sich ab 1962 ein Wechsel vom reagierenden zum vorsorglichen Küstenschutz.
Wie schützt sich Hamburg vor künftigen Sturmfluten und steigendem Meeresspiegel?
Müller: Hochwasserschutz ist eine generationenübergreifende Daueraufgabe. Den jetzigen Ausbau der öffentlichen Hauptdeichlinien mit einem Bemessungswasserstand von 7,30 Meter über Normalhöhennull (ehemals Normalnull) am Pegel St. Pauli hat der Senat am 17. März 1995 beschlossen. Der Bemessungswasserstand setzt sich aus verschiedenen Einzelfaktoren zusammen wie beispielsweise dem Windstau infolge eines Sturmes über der Nordsee oder dem Meeresspiegelanstieg für einen zukünftigen Zeitraum. Diese Einzelfaktoren werden regelmäßig überprüft. Mit Fortschreibung und Veröffentlichung der Bemessungswasserstände im Amtlichen Anzeiger am 23. Juni 2013 ergibt sich am Pegel St. Pauli zukünftig ein Wert in Höhe von 8,10 Meter über Normalhöhennull (NHN). Die Hochwasserschutzanlagen sind also in den nächsten Jahrzehnten laufend an die neuen Bemessungswerte anzupassen.
Dieser Bemessungswasserstand ist also ein Wert für ein Worst-Case-Szenario?
Müller: Genau. 1962 hatten wir eine Flut von 5,70 Meter über NHN - so hoch waren damals die Deiche, die sind dann übergelaufen. Seither hatten wir eine Reihe höherer Fluten, davon war die Flut von 1976 mit 6,45 Metern die bisher höchste. Am 6. Dezember 2013 hatten wir mit 6,08 Metern über NHN am Pegel St. Pauli den zweithöchsten, je gemessenen Sturmflutscheitel. Mit dem Ausbau der Hochwasserschutzanlagen wird das Restrisiko weiter minimiert.
Der Bemessungswasserstand ist ja noch lange nicht die Deichhöhe. Die Deichhöhe der Anlagen ergibt sich aus dem Bemessungswasserstand plus einem so genannten Freibordzuschlag. Das ist der Wellenauflauf, der örtlich unterschiedlich hoch ist. Er hängt davon ab, wie viel Wind auf die Wasserfläche pusten kann. Und je länger diese Fläche ist, desto größer kann die Welle werden - im Bereich des Hamburger Hafens bis etwa einen Meter. Deshalb sind die Hochwasserschutzanlagen nie überall gleich hoch. Wir haben Deichhöhen zwischen 7,50 Meter und 9,25 über NHN. Im Bereich Finkenwerder befinden sich die höchsten Deiche, weil wir dort besonders viel Windangriffsfläche haben.
Wie viel Geld gibt die Stadt für den Hochwasserschutz aus?
Müller: Das jetzige Bauprogramm hat nach heutigem Preisstand ein Volumen von rund 1,3 Milliarden Euro. 2021 wurde die Erhöhung des Haulander Hauptdeichs fertiggestellt. Derzeit läuft die Erhöhung des Klütjenfelder Hauptdeiches. Weitere Deiche, in der Hauptsache entlang des Ringdeiches der Elbinsel Wilhelmsburgs, befinden sich in der Planung.
Welchen Schutz gibt es für die Wohnviertel in der Hafencity?
Müller: Die Hafencity befindet sich vor der Deichlinie. Hier haben wir ein besonderes Schutzkonzept benutzt, das Warftenkonzept. Dabei wird alles so weit aufgehöht, dass man hochwassersicher ist. Das Leben findet also auf Deichkronenhöhe statt. Das ganze Gebiet ist ein riesiger Deich - das nennt man Warft. Vorschrift ist, dass die Häuser grundsätzlich keine Öffnungen unterhalb der Mindestschutzhöhe von 7,50 Metern über NHN haben dürfen, Ausnahmen müssen beantragt werden. Die meisten Objekte liegen heute aber deutlich über dieser Höhe auf mindestens acht Metern, weil wir die Investoren darauf hingewiesen haben, was passieren könnte.
Das Warftenkonzept ist eines von insgesamt fünf Schutzkonzepten, die es in Hamburg gibt. Ein weiteres Konzept heißt "Leben mit dem Wasser" und ist beispielsweise am Fischmarkt zu sehen. Bei Sturmfluten steht der Markt unter Wasser. Hinterher müssen Sie die Gebäude wieder reinigen und haben einen entsprechenden Aufwand, aber es ist ein relativ stabiles Konzept. Das Wohnen ist in solchen Gebieten nicht erlaubt. Dann haben wir das Konzept der Polder, das insbesondere im Hafen vollzogen ist. Das ist nichts anderes als ein Deichring, wobei es in diesem Ring sehr viele Tore und mobile Schutzelemente gibt, weil die Hafenbetriebe ja sehr beweglich hantieren müssen. Auch dort ist kein Wohnen erlaubt.
Dann haben wir das Konzept des Objektschutzes, zum Beispiel im Bezirk Altona, wo Häuser sehr nah an der Wasserkante gebaut sind. Dort haben einzelne Häuser Panzerglas oder Hochwasserschutztüren oder -tore, die verschlossen werden können. Das beste Schutzkonzept aber ist unsere 103 Kilometer lange, geschlossene Deichschutzlinie. Dort gibt es nur wenige Tore und bewegliche Elemente.
Was kann ich als Bürger selbst tun, um gut vorbereitet zu sein?
Müller: In Hamburg wird sehr viel informiert. So werden alle drei Jahre - zuletzt im September 2021 - 226 Sturmflutmerkblätter verteilt, um die Menschen, die in deichgeschützten Gebieten wohnen, aufzuklären. Sie informieren beispielsweise darüber, wo Fluchtburgen sind, welche Bereiche überschwemmt werden könnten, wo man anrufen kann und welche Warnungen es gibt, zum Beispiel Böllerschüsse. Um die Sensibilität noch weiter zu erhöhen, gibt es die App NINA. Da können sich die Bürgerinnen und Bürger anmelden. Über SMS und E-Mail erhalten sie dann eine Nachricht, dass eine Sturmflut im angegebenen Postleitzahlenbereich aufläuft.
Der Selbstschutz ist, wie in jedem Bereich des Lebens, natürlich ein wunder Punkt. Obwohl Hamburg sehr viel informiert und in der Aufklärung sehr weit ist, werden jährlich mehrere Autos aus überschwemmten Gebieten in Neumühlen, der Speicherstadt oder auf dem Fischmarkt abgeschleppt. Auch Autos von Hamburgern stehen dort.
Das Interview führte Irene Altenmüller.