Linker Terror? Bombenanschlag in Hamburg 1975
Elf Menschen werden verletzt, als am 13. September 1975 im Hamburger Hauptbahnhof eine Bombe explodiert. Medien haben sofort die RAF im Verdacht. Doch die distanziert sich von dem Anschlag.
Sonnabend, 13. September 1975, 16.29 Uhr: Ein gewaltiger Knall erschüttert den Hamburger Hauptbahnhof, Metallsplitter fliegen durch die Luft. Menschen schreien, rufen um Hilfe, rennen panisch durch den den belebten Bahnhof. In einem Gepäckschließfach direkt neben einer Bäckerei ist eine Bombe explodiert. Elf Menschen werden verletzt.
Nur etwa zwei Minuten, bevor der Sprengsatz hochgeht, erhält die Hamburger Feuerwehr noch einen Anruf: "Um 16.30 Uhr geht im Bahnhof 'ne Bombe hoch, Rache für Ralf Reinders. Rote Armee", warnt ein Unbekannter. Doch die Zeit ist zu kurz - die Bombe explodiert, bevor die Menschen aus dem Bahnhof gebracht werden können.
Wer steckt hinter den Anschlägen?
Schon kurz nach den Anschlägen gibt es Hinweise, dass der untergetauchte 19-jährige Hamburger Andreas V. für das Attentat verantwortlich sein könnte. Er soll zur linksextremen Szene zählen und bereits an einem ähnlichen Bombenanschlag in Bremen neun Monate zuvor beteiligt gewesen sein. Außerdem soll er der linksterroristischen "Bewegung 2. Juni" nahe stehen, zu der auch der von dem anonymen Anrufer genannte Ralf Reinders gehört, der wenige Tage zuvor verhaftet wurde. Doch ob V. tatsächlich den Bombenanschlag in Hamburg verübt hat, ist - und bleibt - unklar. Zwar wird er im März 1976 verhaftet und im Oktober 1980 wegen Beteiligung an der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz im Februar 1975 zu zehn Jahren Jugendstrafe verurteilt. Wegen der Bombenexplosion in Hamburg wird er aber nicht angeklagt.
RAF und "Bewegung 2. Juni" distanzieren sich
Schon kurz nach dem Anschlag dementieren die "Bewegung 2. Juni" und die RAF eine Beteiligung an dem Anschlag. Aus dem Gefängnis in Stuttgart-Stammheim heraus erklärt die Gruppe um Andreas Baader und Gudrun Ensslin am 23. September 1975: "Gegen den Versuch der staatlichen Propaganda, den Anschlag im Hamburger Hauptbahnhof in die Nähe der RAF zu rücken, stellen wir fest: Die Sprache dieser Explosion ist die Sprache der Reaktion. Die politisch-militärische Aktion der Stadtguerilla richtet sich nie gegen das Volk."
Tatsächlich halten es auch viele Experten für unwahrscheinlich, dass die RAF den Bombenanschlag verübt haben könnte, darunter der ehemalige Verfassungsschützer Lothar Jachmann. In einem Interview mit den Fernseh-Journalisten Susanne Brahms und Rainer Krause, die im Fall des Bremer Bombenanschlags im Dezember 1974 recherchierten, erklärt Lachmann 2014: "Es gab den Grundsatz, die Großindustrie und das Großkapital zu treffen, nicht aber den Normalbürger. (...) Unreflektierte Anschläge wie auf Schließfächer in Bahnhöfen bargen in hohem Maß die Gefahr, dass völlig Unbeteiligte und aus ihrer Sicht (der RAF, Anm. d. Red.) nicht Verantwortliche für dieses 'Schweinesystem' zu Schaden kamen. Und genau das hielten sie für nicht vermittelbar, denn sie wollten in einer gewissen Szene Sympathie für ihre Aktionen erzeugen."
Zwei weitere Anschlagsversuche folgen
Nach dem Anschlag in Hamburg kommt es noch zu zwei ähnlichen in den Bahnhöfen von Nürnberg am 6. Oktober und in Köln am 12. November 1975, bei denen aber keine Menschen verletzt werden. Teile der linken Szene beschuldigen in der Folge den Staat selbst als möglichen Mitverursacher. In diese Richtung verweist auch die Erklärung der RAF, die den Anschlag in Hamburg als "nachrichtendienstlich gesteuerte Provokation durch Terror gegen das Volk" verurteilt.
"Bewerbungsschreiben von Möchtegern-Terroristen"?
Dem ehemaligen Verfassungsschützer Lachmann zufolge handelte es sich beim Täter vermutlich um einen Einzelnen oder um eine Kleingruppe, die mit den Linksextremisten sympathisierte und sich durch einen Anschlag Zugang zu der illegalen Szene verschaffen wollte: "Es gab Personen in einer ganz wilden Anarcho-Szene, die andocken wollte an diese Konzepte (der RAF, der Bewegung 2. Juni und der Revolutionären Zellen, Anm. der Red.). Dazu mussten sozusagen Bewerbungsschreiben abgegeben werden. Es waren Bewerbungsschreiben von Möchtegern-Anarcho-Terroristen."
Vieles deutet darauf hin, dass die Bombenleger tatsächlich aus der linksextremen Bremer Splittergruppe stammten, zu der auch Andreas V. gehörte, und dass die Anschläge in Bremen und Hamburg von denselben Tätern verübt wurden. Neben V. gehörte bis zu seiner Verhaftung im Februar 1975 auch der frühere Physik-Student Reiner H. zu dieser Gruppe. H. sagte ab 1978 als Kronzeuge im Prozess um die Lorenz-Entführung und den 1974 verübten Mord an dem Berliner Kammergerichts-Präsidenten Günter von Drenkmann aus.
Bombenanschlag bleibt unaufgeklärt
Die Recherche-Ergebnisse der Journalisten Brahms und Krause, die sich zwei Jahre lang mit dem Bremer Anschlag befassten, legen nahe, dass die Ermittlungen zu den Taten in Bremen und Hamburg als Gegenleistung für die wichtigen Aussagen von H. zum Stillstand kamen. "Die beiden Fälle (Drenkmann und Lorenz, Anm. d. Red.) wogen für die Ermittler offensichtlich schwerer als die Anschläge in Norddeutschland", stellen die beiden Bremer Journalisten damals fest. Dafür spricht auch, dass der damalige Gerichtsvorsitzende Friedrich Geus am Ende des Lorenz-Drenkmann-Prozesses im Jahr 1980 feststellte, es gebe Anhaltspunkte dafür, dass H. "irgendwelche Zusagen gemacht worden sind, um seine Aussagebereitschaft zu wecken". Dass Umstände und Täter des Anschlags von Hamburg jemals aufgeklärt werden, erscheint vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich. So liegen auch dem Hamburger Verfassungsschutz 45 Jahren nach dem Anschlag keine neuen Erkenntnisse vor.