"Hallo, hier spricht Nawalny": Tief ergreifende Lesung im Thalia Theater
Vor nicht ganz einem Jahr starb Alexej Nawalny in einem Strafgefangenenlager. Über seine Zeit dort hat er viel in Briefen an seine Frau Julija geschrieben, die aus dem Gefängnis geschmuggelt wurden. Im Thalia Theater wurde nun daraus gelesen.
Alexej Nawalny starb im Straflager. Es war ihm immer klar, dass es so kommen könnte - und doch ging er freiwillig zurück nach Russland, obwohl er im Januar 2021 noch in Berlin war. Hier war er nach einem Giftanschlag behandelt worden.
"Ich habe überlebt und jetzt tobt Putin, der meinen Mord in Auftrag gegeben hat, und befiehlt seinen Handlangern alles zu unternehmen, dass ich nicht zurückkomme. Die Handlanger tun, was sie immer tun: Sie fabrizieren neue Strafverfahren gegen mich. Aber was sie tun, interessiert mich nicht. Russland ist mein Land, Moskau ist meine Stadt. Ich vermisse sie." Alexej Nawalny
Reduzierte Lesung von Alexej Nawalnys Briefen mit Michael Maertens
Schauspieler Michael Maertens liest die Briefe, Tagebucheinträge und Gerichtsplädoyers von Nawalny. Inszeniert ist der Abend von Katja Kolm. Sie sitzt in einem rosa Rock an einem Tisch, Maertens im schwarzen Sakko an einem anderen. Im Hintergrund werden die Daten der Eintragungen eingeblendet. Alles ganz reduziert inszeniert: Das verleiht den Worten umso mehr Gewicht. Kolm liest die Gedanken von Nawalnys Frau Julija:
"Ich habe zweimal im Leben Glück gehabt. Vor 22 Jahren habe ich nicht nur meine große Liebe getroffen, sondern auch meinen besten Freund. 22 Jahre des absoluten Glücks. Joscha, du bist mein Seelenverwandter und ich werde immer für dich kämpfen." Julija Nawalny
Nawalny muss häufig in Isolationshaft: in eine zweieinhalb mal drei Meter kleine Zelle, in der das Licht immer an ist, in der er einmal die Stunde geweckt wird und das Bett morgens um fünf Uhr abgebaut wird. Das sei für ihn aber nicht das Schlimmste:
"Die schlimmsten Tage im Gefängnis, das sind die Geburtstage von engen Familienangehörigen. Besonders von den eigenen Kindern. Was ist das für ein blödsinniger Geburtstagsgruß, seinem Sohn zum 14. Geburtstag einen Brief zu schreiben? Sacha, alles Gute zum Geburtstag. Ich vermisse dich schrecklich. Und ich liebe dich sehr." Alexej Nawalny
Alexej Nawalny: Trotz Strafgefangenenlager positiv und humorvoll
Michael Maertens liest die Texte Nawalnys lebendig. So entsteht das Bild eines sehr emotionalen Mannes, der mit aller Macht versucht, positiv zu bleiben - und viel Humor hat. Da er keine Unterhaltung im Lager hat, schreibt er Anträge an die Lagerverwaltung:
"Hier ein paar Antworten der IK6 auf meine Anträge: Auf ihre Anfrage, dem Psycho in der Zelle gegenüber ein Megafon zu geben, damit er noch lauter schreien kann, teilen wir ihnen mit, dass ein Megafon in der Isolationshaft nicht ausgehändigt werden kann. Der von ihnen gewünschte Kimono und der schwarze Gürtel können Ihnen in der Isolationshaft nicht ausgehändigt werden. Sechstens: Wir können Ihnen die Namen der Diensthunde nicht mitteilen." Alexej Nawalny
Bei allem Humor Nawalnys: Was er erlebt, ist grauenhaft. Wenn er krank ist, bekommt er keine Medikamente. Seine Ärzte dürfen nicht zu ihm. Über Tage und Wochen darf keiner Kontakt zu ihm haben.
Die Geschichte hat kein Happy End. Alexei Nawalny stirbt im Lager. Die Behörden sagen: nach einem Spaziergang. Seine Familie berichtet von Unterernährung und Folter. Eine Woche darf die Familie den Körper nicht sehen. Katja Kolm und Michael Maertens schaffen es, diesen Mann greifbar zu machen. Es ist tief ergreifend und inspirierend. Putin ist für Nawalnys Tod verantwortlich, aber eins schaffte er nie: Er hat ihn nie gebrochen.