Kultur in den Wahlprogrammen: Den meisten Parteien keinen Absatz wert
Ist Kultur überflüssig? Beim Blick in die Programme vieler Parteien, die zur Europawahl antreten, kann dieser Eindruck entstehen. Joachim Lux, der Intendant des Hamburger Thalia Theaters, meint: Das kann eigentlich nicht wahr sein.
35 politische Parteien treten in Deutschland an, die Listen variieren leicht von Bundesland zu Bundesland. Der Wahlzettel in Hamburg ist einen Meter lang, auf ihm stehen 34 Parteien, unter denen man sich als Wähler mit einer einzigen Stimme entscheiden muss. Ganz oben die großen, bekannten wie Grüne, SPD, CDU, Linke, AfD und FDP, gefolgt von den Piraten, den Freien Wählern oder dem BSW, dem Bündnis Sahra Wagenknecht. Dazwischen die enorme Anzahl sehr kleiner Gruppen, die mit einem Einzelthema antreten wie Familie, Tierschutz, Klima oder veganer Ernährung. Überraschend ist aber nicht die Anzahl der Parteien, sondern etwas anderes: Der Kultur widmen exakt zwei von 34 Parteien eigene Absätze in ihren Programmen.
Joachim Lux: "Entweder Missverständnis oder Zeichen tiefer Borniertheit"
Der Intendant des Hamburger Thalia Theaters, Joachim Lux, möchte das erst nicht glauben. "Das finde ich in der Tat erstaunlich", sagt Lux. "Das ist entweder ein Missverständnis oder ein Zeichen von tieferer Borniertheit. Denn dass Kultur, und damit meine ich nicht unbedingt Theater oder Hochkultur, Kultur ist ja ein ganz breiter Begriff, geradezu die Basis ist, die unser Zusammenleben regelt, das müsste unstrittig sein. Das müsste man pflegen wollen."
Nur die Grünen und die Linke denken offenbar so. Erstere fordern Freiheit von Kunst und Kultur als Zeichen einer vielfältigen Demokratie, gefolgt von Überlegungen zur Reform der Filmförderung, der sozialen Absicherung von Kulturschaffenden und besserer Bildung durch Teilhabe an Kultur.
Linke fordert freien Eintritt in Museen
Noch detaillierter die Linke: Sie wollen die Urheberrechte der Kreativen schützen, sind dafür, dass die Kunstproduktion auch digital gesichert wird, und fordern freien Eintritt in Museen bei gleichzeitiger Aufstockung des Personals. Restitution von Raubkunst steht in ihrem Programm ebenso wie etwa der Schutz von Street-Art.
Geradezu erschütternd ist, dass bei vermeintlichen Volksparteien wie der CDU oder der SPD Kultur tatsächlich gar nicht vorkommt. Auf 50 Seiten Wahlprogramm der Sozialdemokraten und nur 25 Seiten Programm der CDU/CSU wird Kultur nicht mal erwähnt. Die FDP möchte immerhin "die Bundesmittel für die nationale wie internationale Kulturförderung erhöhen", ohne jedoch zu präzisieren, wie sie ausgerechnet bei ihrem Parteivorsitzenden, der aktuell Finanzminister ist, das Geld locker machen wollen.
Nicht mal mehr "die schönste Nebensache der Welt"
Kultur ist nicht mal mehr "die schönste Nebensache der Welt", sondern offenbar überflüssig. "Den Menschen macht aus, dass er sich das scheinbar Überflüssige leistet, weil er dadurch Mensch wird", meint der Thalia-Intendant. "Wenn diese Art von Kulturbegriff, zu dem natürlich noch viel viel mehr gehört, keinerlei Priorität hat, dann kann ich das nur für einen Witz halten oder diese 34 Parteien mit Verachtung strafen. Das kann eigentlich nicht sein, das kann man nicht durchgehen lassen."
Mit dem Stück "Barocco" war das Thalia gerade auf Gastspielreise im Burgtheater Wien. "Die Schönheit dieses Kontinents ist unglaublich", bemerkt Lux. "Ob es die Landschaften sind, die Architektur der Städte, die Musik - es ist hier so reich wie auf keinem Kontinent dieser Erde. Da bin ich wirklich ein glühender Europäer. Deswegen finde ich es wichtig, junge Leute, die wahlmüde sind und politikverdrossen, zu verführen, damit sie sehen: Das alles hat nicht automatisch Bestand - sie müssen etwas dafür tun."
"Stimmen für Europa": Thalia Theater feiert die Demokratie
Also bietet der Intendant kurz vor der Wahl in seinem Haus Live-Musik, Poetry-Slams, ein Mini-Wahllokal und Debatten, besonders für Erstwähler und -wählerinnen. Bei der Veranstaltung am 6. Juni treten auch Acts wie Ace Tee, Ansu, ÄTNA und Booz auf. Lux bittet alle Erwachsenen inständig, auf die Jüngeren einzuwirken, wählen zu gehen: "Man muss sich offensiv darum kümmern, dass sie das staatsbürgerliche Recht, wählen zu gehen, auch wirklich wahrnehmen. In 70 Prozent der Welt existiert dieses Recht nicht mehr - da gibt es nichts zu wählen."