Überraschend tiefgründig: Hamlet als Teil des Videospiels GTA
Vom Casting, über die Proben und Krisen bis zur Aufführung: "Grand Theft Hamlet" dokumentiert die Entstehung einer virtuellen Shakespeare-Laien-Inszenierung als Teil des Videospiels "Grand Theft Auto Online".
Seit letzter Woche gibt es im deutschen Streaming-Angebot einen sehr ungewöhnlichen Film zu sehen, genauer: einen Dokumentarfilm, der bereits viele Festival-Preise eingeheimst hat. Ungewöhnlich ist der Film, weil er komplett innerhalb eines Computerspiels "Grand Theft Auto Online" (GTA) gedreht wurde. So hergestellte Filme heißen "Machinimas": In ihnen ist die Spielwelt die Kulisse für die Figuren, die sogenannten Avatare, die von den Spielenden gesteuert werden - quasi ein virtuelles Puppentheater.
Shakespeare zwischen Autorennen und Geballer
"Wir arbeiten an einer Aufführung von Hamlet, das erste Mal in Grand Theft Auto. Und wir suchen Schauspieler! Falls Du also schon immer mal nach der Gelegenheit gesucht hast, Deinen Shakespeare auf eine virtuelle Bühne zu bringen, komm zum Vorsprechen! Die Polizei versucht uns aufzuhalten, aber man kann Kunst nicht stoppen!"
Mit diesem Video-Aufruf begann die Geschichte von "Grand Theft Hamlet". Im dritten Pandemie-Lockdown verbrachten die arbeitslosen Schauspieler Sam Crane and Mark Oosterveen gemeinsam viel Zeit im Computerspiel GTA. Dessen Spielwelt, eine extrem realistisch nachgebaute Parodie auf Los Angeles, ist ein gigantischer Gangster-Abenteuer-Spielplatz, in dem zwar auch Autorennen, Fallschirmsprünge und noch viel mehr angeboten werden. Aber die meiste Zeit verbringen die Anwesenden mit Verbrechen, begleitet von viel Geballer durch Automatikwaffen.
Videogamer werden zum Hamlet-Fans
Irgendwann hatten die beiden Schaupieler, die zu diesem Zeitpunkt seit fast einem Jahr nicht mehr auf der Bühne hatten stehen können, die Idee, hier, in der virtuellen Welt von Los Santos, eine total hygienevorschriftskonforme Inszenierung von Shakespeares "Hamlet" zu inszenieren - und zwar mit den Laien, die in dieser Spielwelt in der Regel mit Gewaltverbrechen beschäftigt waren. Das Casting begann zäh, doch irgendwann fand sich eine Gruppe zusammen, die sich für diese durchgeknallte Theaterproduktion gewinnen ließ: Von der Hamlet-begeisterten Literaturagentin, die über den GTA-Account ihres Neffen dazu stieß, über die junge Trans-Person, die viele Parallelen zwischen ihrem und Hamlets Schicksal erkennt, bis hin zur Einzelhandelsverkäuferin, die so gerne Schauspielerin sein möchte.
"Proben werden unterbrochen, wenn irgendjemand versucht uns umzubringen"
Alle finden in der Verbrecherwelt von GTA zusammen. Dann stehen Leseproben an, in sehr feinen Konferenzzimmern virtueller Mafia-Syndikate, und natürlich Spielproben, draußen, wo auch die Banditen überall herumlaufen. "Wir müssen auch lernen, mit solchen Störungen umzugehen. Die Proben werden eben unterbrochen, wenn irgendjemand versucht uns umzubringen", ist in der Dokumentation zu hören.
Die Inszenierung soll die vielen Möglichkeiten nutzen, die diese Spielwelt bietet, nicht nur durch die Gesten der Avatare, die endlosen Kostüm-Optionen oder Rauchgranaten als Nebelmaschinen, sondern auch durch atemberaubende Locations: An rauer Küste, auf Wolkenkratzern, in U-Bahn-Tunneln oder auf einem fliegenden Zeppelin. Dazu heißt es seitens der Macher dann ganz einfach: "Ich weiß nicht, wie viele Zuschauer kommen, aber irgendjemand wird ganz sicher runterfallen. Das stimmt, aber Du kannst die Aufführung nicht unterbrechen, nur weil jemand stirbt, so hart das auch klingen mag. Vielleicht kommt jemand von der Royal Shakespeare Company vorbei."
Echte menschliche Verbindungen in einer surrealen Welt
"Grandt Theft Hamlet" ist ein wundervoller Film: Sein melancholischer Grundton und die künstlerischen und existentiellen Krisen des Ensembles stehen in einem erfrischend-surrealen Gegensatz zur überdrehten Slapstick-Gewalt des Spiels. Und am Ende geht es nicht mehr um "Hamlet", sondern um Menschen, die in einer virtuellen Welt sehr reale Verbindungen miteinander eingehen.
Der Dokumentarfilm "Grand Theft Hamlet" ist in Deutschland Teil des Streamingangebotes von MUBI und Amazon Prime.
