"Spiegelneuronen" auf Kampnagel: Ein Abend voller Respekt
Der Tanzabend "Spiegelneuronen" auf Kampnagel ist ein Experiment über Gehirn, Körper und ihr Verhältnis zueinander. Erdacht haben den "dokumentarischen Tanzabend mit Publikum" auf Kampnagel die Choreografin Sasha Waltz und Stefan Kaegi von Rimini Protokoll.
Das ist schon ein bisschen "spooky", wenn das Bühnenlicht langsam angeht und man sich selbst und das gesamte Mit-Publikum in einem riesigen Spiegel sieht. Niemand da sonst. Nur wir uns gegenüber. "Man macht komische Sachen", sagt jemand nach gefühlt minutenlanger Einsamkeit in dieser Situation. Irgendwie automatisch sucht man sich im Spiegel, winkt albern oder zuckt oder wackelt hin und her. Wie Avatare kommen einem die Menschen da auf der Bühne vor.
Tänzerinnen und Tänzer triggern das Publikum
Zum ersten Mal haben die Star-Choreografin Sasha Waltz und Stefan Kaegi vom Theaterkollektiv Rimini Protokoll zusammengearbeitet und sorgten an diesem Abend für ausverkaufte Plätze. Beide sind schon lange auf Kampnagel verlässlich erfolgreich: Sasha Waltz mit Tanzabenden, Rimini Protokoll mit Performances mit Dokumentartheater-Geschmack. Was wird also passieren? Erstmal werden wir verständnisvoll angesprochen: "Es ist bizarr, aber es ist eine ungewöhnliche Perspektive, dass du nicht realisierst, dass der kleine Punkt da gegenüber du bist (.. ) Aber es ist klar, das bist du. Du kannst ein paar Bewegungen machen oder so, um zu realisieren: Das bist du."
Langsam gehen Arme nach oben, schwingen hin und her, zuerst bleiben alle an ihren Sitzen kleben, irgendwann steht jemand auf. Die einen haben offensichtich Spaß und machen neugierig mit, andere sitzen den ganzen Abend mit verschränkten Armen da.
Dass wir im Zuschauerraum in Bewegung kommen, liegt auch daran, dass sieben Tänzer und Tänzerinnen im Publikum verteilt sind und mit ihren Aktionen unsere "Spiegelneuronen" triggern. Das sind Zellen in unserem Gehirn, die dafür sorgen, dass wir das nachahmen, was wir sehen, Bewegungen imitieren und Empathie empfinden. Einfach gesagt jedenfalls. Gähnen, an die Nase fassen, lachen, wenn der andere lacht. Jeder kennt das.
Hirnforscher begleiten das "Experiment"
Begleitet werden wir von Expertinnen und Experten aus dem Off, unter anderem ein Hirnforscher, eine Professorin für Soziale Neurowissenschaft, ein KI-Wissenschaftler. Sie waren bei den Proben zu diesem Experiment dabei und lassen uns in diesen 90 Minuten teilhaben an ihren Erfahrungen und Einschätzungen: "Und dann kann man durch Mikrobewegungen eben dann doch Handlungsfähigkeit beweisen ( … ) Und selbst wenn es einen Impuls gab, es ist vielleicht auch gar nicht so wichtig, wo der herkam. Die Leute machen was Eigenes daraus. In der Moderne ist man immer inkludiert. Selbst wenn man dasitzt, ist man Teil der Gruppe, ist man Teil der Gesellschaft. Sich komplett rauszuziehen, ist nicht möglich. Selbst wenn man renitent da ist, strickt man an den Normen mit."
Viele Erkenntnisse über die Gemeinschaft
Wie agieren wir in der Gemeinschaft? Was, wenn ich nicht mitmache? Darf mein Sitznachbar mir auf die Schulter fassen? Wo fängt mein "Zu nah"- Bereich an? Die Stärke des Abends ist: Alles ist erlaubt. Auch das Nicht-Mitmachen ist eine ausdrücklich akzeptierte Haltung.
Und selbst wenn der Lichtkegel gefühlt minutenlang auf einem der Zuschauenden ruht, kriegt keiner mehr Puls. Der Abend ist voller Respekt. Praktisch ohne Tanz allerdings, aber mit vielen Erkenntnissen, über - auch demokratische - Gemeinschaft.
"Spiegelneuronen" läuft auf Kampnagel noch bis Sonntag. Es gibt ggf. noch Restkarten an der Abendkasse und am Sonntag gibt es zwei Vorstellungen.