Daniel Karasek: Theater Kiel als Spiegel und Fluchtraum
In einer Zeit der Krisen benötigt die Gesellschaft eine offene Diskussionskultur und Menschen brauchen genussvolle Ablenkung. Das und mehr bietet das Theater Kiel - ein Essay des Intendanten Daniel Karasek.
Wir leben, das ist ja kein Geheimnis, in einer sehr herausfordernden Zeit. Klimawandel und Krieg, eine Vielzahl politischer und gesellschaftlicher Umbrüche bringen Unübersichtlichkeit, Verunsicherungen und multiple Ängste mit sich. Die Menschen taumeln praktisch von einer Krise in die nächste. Mehr denn je wären eigentlich gesellschaftlicher Zusammenhalt und ein klarer demokratischer Kompass notwendig, doch das Gegenteil ist der Fall: Unsere Demokratie wird von verschiedensten Stimmen infrage gestellt, eine freiheitliche Grundordnung ist plötzlich für immer mehr Menschen nicht mehr selbstverständlich gegeben und mit allen Mitteln verteidigungswürdig. Unser Wertekonsens ist akut bedroht.
Offene Diskussionskultur und genussvolle Ablenkung
Und genau hier setzt die Aufgabe von Theater an, als Seismograph für gesellschaftliche Prozesse diese Entwicklungen aufzugreifen, künstlerisch zu verarbeiten, Kritik aufzugreifen und auch zu provozieren, eine offene Diskussionskultur zuzulassen und auch auszuhalten, für Vielfalt, Meinungsfreiheit und Toleranz einzustehen. Genauso ist das Theater aber auch ein Ort, um den Menschen eine genussvolle Ablenkung von einer zunehmend komplexen Realität bieten zu können. Beide Bereiche - Diskussion und Unterhaltung - gehören für einen Ort, an dem Zuschauerinnen und Zuschauer als Abbild einer Stadtgesellschaft zusammenfinden, unverrückbar zusammen.
Vielfältige Antworten auf große Themen
In unseren Spielplänen am Theater Kiel versuchen wir, auf die großen Diskussionsthemen unserer Gegenwart adäquate und künstlerisch vielfältige Antworten zu finden. Themen, die uns umtreiben, bewegen und nicht loslassen. Wir haben die Möglichkeit, sie auf die Bühne zu bringen, einen emotionalen Zugang zu ihnen zu finden und im Idealfall auch beim Publikum Emotionen hervorzurufen. Sei es die immer größer werdende Armutsproblematik, die uns in einem vielgespielten Opernklassiker wie "La Boheme" bei genauer Lesart bei allem unterhaltsamen Potenzial des Stoffes so klar entgegenscheint, seien es die Verheerungen, die Krieg an den Körpern und Seelen der Menschen anrichtet wie in einem aktuellen Stoff wie "Die alte Brücke" über den Bosnienkrieg.
Sei es die Freiheitsunterdrückung und verheerende Gewalt gegen Frauen in einem rigiden Gesellschaftssystem wie in "Rose Bernd" oder die theatrale Enttabuisierung weiblicher Sexualität in der Comicadaption "Der Ursprung der Welt". Und nicht zuletzt legen wir mit den Mitteln des Dokumentartheaters mit dem Auftragswerk "LebensWert" über das schreckliche Verbrechen der NS-Euthanasie in Schleswig-Holstein und dessen zum Teil nicht oder nur sehr langsam erfolgte Aufarbeitung den Finger auf die Vergangenheit der eigenen Stadt, des eigenen Umfelds.
Künstlerischer Spiegel und temporärer Fluchtraum
Theater kann die Gesellschaft nicht als Ganzes verändern, sicherlich nicht. Es kann ihr aber mit seinen Mitteln einen künstlerischen Spiegel vorhalten, genauso wie einen temporären Fluchtraum ermöglichen. In einer Gegenwart in der Krise ist das nötiger denn je.