Gemeinsam in die Ausstellung: Kulturprojekt hilft einsamen Senioren
Ungefähr jede zehnte Person in Deutschland fühlt sich oft oder sehr oft einsam. Corona hat das Problem verschärft. Das Kulturprojekt "KulturistenHoch2" soll gegen Einsamkeit helfen.
Es ist ein sommerlicher Tag in Kiel. Rentnerin Beate Friedrichs steht mit Sonnenbrille und Gehstock auf den hellen Steinstufen vor der Kunsthalle. Es ist nicht das erste Mal, dass sie zu einem Blind-Date verabredet ist. Die 18-jährige Johanna Grohmann läuft zielstrebig auf die Rentnerin zu. Obwohl sich die beiden noch nie gesehen haben, erkennen Sie sich sofort. Die beiden Frauen sind zu einem kostenlosen Besuch in der Kieler Kunsthalle verabredet. Möglich ist das durch das Projekt "KulturistenHoch2". Das führt Senioren mit Jugendlichen zusammen, damit sie gemeinsam an Kulturveranstaltungen teilnehmen können.
Einsamkeit und Altersarmut eng miteinander verknüpft
In Museen war Beate Friedrichs bisher kaum. Die 69-Jährige hat zwei Kinder alleine großgezogen: "Da war Kultur nicht angesagt", sagt sie. Heute hat sie zu ihren Kindern und Enkelkindern wegen familiärer Streitigkeiten kaum noch Kontakt. Das belastet sie. Steigende Preise und Inflation machen es für sie unmöglich, am kulturellen Leben teilzuhaben. "Ich geh' einmal in der Woche einkaufen, aber nur Angebote. Manchmal gehe ich auch zum Mittagstisch der AWO, da gibt's Mittagessen für zwei Euro", schildert sie. Geld für Konzerte oder Theaterkarten bleibt da nicht übrig. Johanna ist durch ihre Schule auf das Projekt aufmerksam geworden. Weil ihre Oma mit den jüngeren Enkeln ausgelastet ist, freut sie sich über die Begegnungen mit unterschiedlichen Seniorinnen und Senioren. Inzwischen ist sie schon zum fünften Mal dabei. Nach dem Abitur möchte Johanna gerne Soziale Arbeit studieren. Die Gespräche mit Seniorinnen, die zum Teil selber im sozialen Bereich gearbeitet haben, haben Sie in ihrem Berufswunsch bestärkt.
Senioren sollen durch das Projekt rauskommen
Das Projekt "KulturistenHoch2" kommt aus Hamburg und wird seit 2021 auch in Kiel angeboten, erzählt Projektkoordinatorin Liane Jaskulke. 135 Tandems haben sich seitdem getroffen - für Theater und Museumsbesuche, Konzerte, Stadtrundfahrten oder Sportveranstaltungen. Finanziert wird das Projekt über Fördergelder und Spenden. Organisator in Kiel ist die Howe-Fiedler Stiftung. Menschen, die in Altersarmut leben und dadurch ausgeschlossen sind, stehen im Fokus.
"Viele, die sich bei uns anmelden, haben vorher vielleicht 14 Tage keinen mehr gesehen, außer den Kassierer bei Rewe. Sie haben keine soziale, gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe und da setzen wir eben an." Liane Jaskulke, Projektkoordinatorin "KulturistenHoch2"
Durch das Projekt würden Seniorinnen und Senioren wieder Mut fassen und aus depressiven Phasen schneller rauskommen, so das Fazit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Jugendliche schätzen hingegen den Einblick in eine andere Lebensgeschichte und schöpfen Ideen aus den Erfahrungen, so Jaskulke. Schülerinnen und Schüler, die sich mehrfach engagieren und zusätzlich Workshops besuchen, können das Projekt mit einem Ehrenamts-Zertifikat abschließen.
Einsamkeit kann krank machen
Jedes Projekt, das Begegnung und Kontakt ermöglicht, kann helfen, sagt Heinz-Dieter Weigert vom Landesseniorenrat. Denn Einsamkeit sei sehr gefährlich: "Wer sich einsam fühlt, läuft Gefahr, dass Herz-Kreislaufprobleme zunehmen, das Risiko einen Schlaganfall zu erleiden steigt und auch Krebserkrankungen können leichter ausbrechen", schildert der Arzt, der lange als Notfallsanitäter gearbeitet hat. Einsamkeit kann außerdem zu Depressionen führen und so massiv werden, dass Betroffene suizidal werden. Deshalb fordert Heinz-Dieter Weigert mehr aufsuchende Hilfsangebote und eine Ausweitung der Therapieangebote für ältere Menschen.
Der Wunsch nach weiteren Maßnahmen
Auch Nathalie Schnorr, die an der Fachhochschule Kiel zum Thema Einsamkeit promoviert, wünscht sich weitere sozialpolitische Maßnahmen: Zum Beispiel attraktive Begegnungsorte, in denen es keinen Konsumzwang gibt, damit auch Menschen mit wenig Geld daran teilhaben können. Und gute und bezahlbare Verkehrsanbindungen, damit Menschen der Einsamkeit zu Hause entkommen können. Das Deutschlandticket sei für Menschen, die Bürgergeld beziehen, zu teuer. Auch Care-Arbeit sollte von der Politik finanziell mehr wertgeschätzt werden, findet Schnorr, denn wer sich um andere Menschen kümmere, laufe Gefahr einsam zu werden. "KulturistenHoch2" bezeichnet sie als Vorzeigeprojekt.
Nach eineinhalb Stunden Rundgang durch die Kieler Kunsthalle haben Beate Friedrichs und Johanna Grohmann viele neue Eindrücke gesammelt und Zeit gehabt, sich auszutauschen. Alleine hätte sich Beate Friedrichs nicht getraut in eine Ausstellung zu gehen, sagt sie. Die Rentnerin freut sich über ihre junge Begleitung und dass man auch mal wieder zusammen lachen kann. Bei den "KulturistenHoch2" will sie weiter mitmachen.