"Rote Sirenen": Ein persönlicher Blick auf die Ukraine
In "Rote Sirenen" geht die Journalistin Viktoria Belim in ihrer ukrainischen Familie auf Spurensuche nach einem verschwundenen Urgroßonkel. Eine Reise in die Stalinzeit und zu ihr selbst.
Die titelgebenden roten Sirenen stehen auf dem so genannten Hahnenhaus im ukrainischen Poltawa. Für die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt ist es ein Ort des Schreckens. Denn zu Sowjetzeiten beherbergte das Haus den berüchtigten Geheimdienst. Die Bewohner von Poltawa scherzten, das Hahnenhaus sei das höchste Gebäude der Stadt, denn selbst im Keller könne man bis Sibirien sehen. Die Keller dienten der Tscheka als Folterkammern.
"Meine Urgroßmutter machte immer einen Bogen um die prachtvolle Allee, über der die roten Sirenen walteten. (...) Ich spürte, dass ich ihr keine Fragen dazu stellen sollte. Leseprobe
Urgroßonkel im Widerstandskampf
Die Autorin Viktoria Belim wurde in der Ukraine geboren, emigrierte mit 14 Jahren in die USA und lebt heute in Brüssel. Viele Jahre hatte Belim ihre Heimat nur sporadisch besucht, sich kaum für das Land ihrer Kindheit und ihre Verwandtschaft interessiert. Kurz nachdem Russland die Krim annektierte, beschließt die Journalistin für eine Weile zurückzukehren und sich mit ihrer Familiengeschichte zu beschäftigen. Im Notizbuch ihres Urgroßvaters Sergij stößt sie auf einen lakonischen Eintrag:
"Bruder Nikodim, verschwunden in den 1930ern im Kampf für eine freie Ukraine." Leseprobe
"Mir kam es verdächtig vor, dass nie über Nikodim gesprochen wurde", so Belim. "Ich konnte mich nicht erinnern, dass Sergij ihn jemals erwähnt hatte." Sie will wissen, was mit ihrem Urgroßonkel damals passiert ist. Aber ihre Familie schweigt und vor allem Großmutter Valentina rät ihr schroff, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
Die Ukraine: Ein gebeuteltes Stück Land
"Rote Sirenen" ist kein literarisches Meisterwerk. Die Autorin kommt erst allmählich in Schwung. Anfangs zerfasert die Geschichte ein wenig, aber bald nimmt einen das persönliches Porträt der Ukraine gefangen. Das Land erscheint wie ein gebeuteltes Stück Erde - immer wieder hart umkämpft und für die Menschen manchmal ein grausamer Ort. Dieser jahrzehntealte Schmerz, die Angst und der Hunger von damals haben auch Spuren bei Viktoria Belim hinterlassen:
"Zu Hause in Brüssel habe ich immer einen Zehn-Kilo-Sack Reis auf Vorrat, als würde ich verfolgt von der Angst vor Ereignissen, die ich selbst gar nicht erlebt habe." Leseprobe
"Rote Sirenen": Auch eine Suche nach sich selbst
Viktoria folgt den wenigen Spuren aus Nikodims Leben. Die führen sie auch in das berüchtigte Hahnenhaus, in dem heute die Akten der Opfer des kommunistischen Terrors archiviert werden. Und tatsächlich wird sie dort fündig. Ihre Suche nach dem Verschwundenen, so begreift sie, ist auch eine Suche nach sich selbst. Nach ihren Wurzeln, die sie fast vollständig gekappt hatte:
"Mir wurde klar, dass die Vergangenheit sowohl Schmerz als auch Schönheit bereithalten kann und dass ich lernen konnte, mit Schmerz umzugehen, auch wenn er nicht vergeht. (...) Ich erlaubte mir endlich, zu trauern." Leseprobe
Ihr Buch hat Viktoria Belim vor dem aktuellen Krieg in der Ukraine verfasst. Heute, so schreibt sie erschüttert, wäre sie dazu nicht mehr in der Lage.
Rote Sirenen - Geschichte meiner ukrainischen Familie
- Seitenzahl:
- 350 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Übersetzung: Ekaterina Pavlova
- Verlag:
- Aufbau
- Veröffentlichungsdatum:
- 16. Januar 2023
- Bestellnummer:
- 978-3-351-04180-9
- Preis:
- 22 €