Roman "Nicht ich": Klagegesang einer gebrochenen Frau
Zeruya Shalev kennt die Abgründe komplizierter Beziehungen und Familienkonstellationen, schaut in die Tiefen ihrer oft enttäuschten und verzweifelten Figuren. Weltbekannt wurde die israelische Schriftstellerin mit dem Buch "Liebesleben", das 2000 in Deutschland erschien und von Maria Schrader verfilmt wurde. Vor über 30 Jahren aber erschien in Israel ihr Debüt, das jetzt auch in Deutschland veröffentlicht wurde.
Zeruya Shalevs unverwechselbarer Sound
Wer ist das "Ich" in diesem Roman? Das "Ich", das sich schon im Titel, "Nicht ich", abzugrenzen versucht. Wie ein Kleid, das sie anzieht und wieder auszieht, wechselt die Ich-Erzählerin ihre Namen. Eine Frau, die auf der Suche ist, die sieben Jahre Ehe hinter sich hat, sieben Monate mit dem Geliebten. Wechselnde Lieben, die einen hohen Preis haben. Ihr Kind, das Mädchen mit den geflochtenen Zöpfen, ist plötzlich verschwunden:
Die haben gesehen, wie die Soldaten sie in ihrem Tanzröckchen vom Spielplatz wegholten und über die Grenze brachten. Bei ihren Verhören sagte das Mädchen: "Ich habe keinen Vater, ich habe keine Mutter, ich habe keinen Bruder, ich habe keine Schwester", doch sie glaubten ihr nicht. Leseprobe
Da ist er, der unverwechselbare Sound der Erzählerin Zeruya Shalev: rätselhaft, voller Wucht, virtuos in der Klangfarbe. Diese Geschichte hier ist verknotet, verwickelt, unscharf - surreal, kafkaesk. Auf der Suche nach Deutungen wird man beim Lesen hineingezogen in den Sog der Ungereimtheiten und Vorahnungen, die die Frau aufwühlen. Und hinter allem, was passiert, stehen großen Fragezeichen:
Was habe ich gehabt, fragte ich mich. Einen Ehemann mit schwarzen Augen. Einen Geliebten mit grünen Augen, ein Mädchen mit violetten Augen. Wenn das Mädchen zum Beispiel zu lange den Geliebten anschaute, bekam es plötzlich ein rotes Auge. Ich selbst lief nach einem ganzen Schabbat mit dem Ehemann schwarz an. Leseprobe
Gewürzt mit grotesker Komik
Farben, Feier- und Festtage des jüdischen Kalenders sind die letzten Ankerpunkte in der unsortierten Welt der Ich-Erzählerin. Kein Zufall, die Bibelwissenschaftlerin Zeruya Shalev weiß genau, was sie tut, sie kennt die Symbolik der Zahlen, kennt Metaphern, Gleichnisse und versteht sie poetisch zu verweben. Sie stimmt in unüberhörbarer Frequenz den Klagegesang einer wütenden, gebrochenen Frau an. Verzweifelt, tobend, dann wieder verletzt, aber auch - und darauf verzichtet Shalev in diesem Buch nicht - mit grotesker Komik. Die Ich-Erzählerin hat ein ambivalentes Verhältnis zum Vater und erinnert sich beunruhigt daran, wie er "mit seiner kalten Hand" über ihr Haar gestrichen hat. Die Mutter erzählt ihr nun eine andere Geschichte:
"Zu jeder vollen Stunde öffnet er die Tür seines Zimmers, streckt den Kopf raus, schreit ein paarmal etwas und klappt die Tür wieder zu. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich wollte einen Arzt rufen, aber ich weiß noch nicht mal, was für einen."
"Vielleicht besser den Uhrmacher", lache ich, aber dann ist die Heiterkeit auch schon vorbei.
Leseprobe
Zwischen Traum, Wachheit und Wahn
"Nicht ich" ist ein lose fragmentarisch geknüpfter Episodenteppich, mit dem Zeruya Shalev ein Dauerflirren zwischen Traum, Wachheit und Wahn inszeniert.
1993 erschien der Roman erstmals in Israel, mitten in einer Zeit, in der Jitzchak Rabin mit großer Entschlossenheit an der Architektur des Friedens arbeitete. 30 Jahre später ist die Lage umkämpfter denn je. Die Meisterin der in Sprache gegossenen Emotionen hat in ihren Romanen nie unmittelbar die fragile politische Sicherheitslage im Fokus. Aber immer ist sie spürbar und gegenwärtig im feingliedrig ausgestalteten Innenleben ihrer Figuren, in den verwundeten Seelen, den Traumata. Genau deshalb ist auch Zeruya Shalevs Erstlingswerk ein Buch, das damals wie heute erschütternd, beklemmend und herausfordernd ist.
Nicht ich
- Seitenzahl:
- 208 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
- Verlag:
- Berlin
- Bestellnummer:
- 978-3-8270-1476-4
- Preis:
- 24 €