Roman "Liebesmühe": Wenn die Liebe einer Mutter ausbleibt
Christina Wesselys Debütroman "Liebesmühe" erzählt die Geschichte einer Mutter, die sich nach der Geburt ihres Sohnes von sich selbst entfremdet und in eine postpartale Depression verfällt.
Eine Frau um die 40 bekommt einen Sohn, ein Wunschkind. Die Gratulationen sind überschwänglich. Sie solle die intensive Zeit des Anfangs genießen, den Zauber, das Kennenlernen, das Kuscheln. Doch die Frau kann nicht genießen.
Das Kind, das sie nicht kennt. (…) mit ihm ist sie von nun an verbunden. Mit einem Mal versteht sie das Wort Unentrinnbarkeit. Niemals hat ihr etwas mehr Angst eingejagt. Leseprobe
Die Frau ist sich ganz sicher: Ihr bisheriges Leben ist vorbei. "Sie" ist vorbei. "Nicht nur das Kind steht dieser Mutter fremd gegenüber, sondern eigentlich ganz plötzlich sie sich selbst", erklärt Wessely. "So viele Gewissheiten, von denen sie eigentlich überzeugt war als Frau, als Wissenschaftlerin, als Feministin, scheinen praktisch mit der Geburt dieses Kindes nicht mehr gültig zu sein."
Die erlösende Diagnose: postpartale Depression
Christina Wessely schreibt im Prolog, dass diese Geschichte nur in der dritten Person geschrieben werden konnte. Zu nah dran ist sie selbst an der Hauptfigur. Und so wird das Ich zu Sie.
Sie erzählt (…) wie schwer ihr alles fällt, wie unmöglich selbst der kleinste Ausflug scheint, wie belastend schon der Gedanke an einen Einkauf im Supermarkt oder der Gang zum Amt ist, erzählt von den verrückten Plänen und irren Berechnungen, mit denen sie den Alltag dennoch zu bewältigen sucht, von der Panik, von der Leere. (…) Von dem Horror, Liebe nicht zu fühlen, aber dennoch zu ihr gezwungen zu werden. Leseprobe
"Ich glaube, die große Zumutung ist dieses ganz erschreckende Ausbleiben von Mutterliebe, die eigentlich in unserer Gesellschaft als etwas total Natürliches markiert wird, etwas, was sich ganz selbstverständlich und unhinterfragt einstellt", sagt Wessely. "Und dieser Schock, der das nicht blitzartige Einfahren dieser unendlichen und auch opferbereiten Mutterliebe bedeutet, ist wirklich unermesslich für diese Frau."
Die Medizin kennt ein Wort für ihre Angst, ihre Verzweiflung, ihre suizidalen Gedanken: postpartale Depression. Nicht nur für die Protagonistin, auch für die Leserin ist diese Diagnose wie eine Erlösung - war der Text bis dahin doch recht befremdlich: das konstruierte Wegdrücken eigener Erfahrungen in die dritte Person, die verschachtelten Sätze, die ausufernden Klammerbemerkungen, plus das hysterische Verhalten einer Mutter, die zurück in ihr Partyleben möchte.
Gesellschaftliche Ansichten, die krank machen
Ja, auch die Leserin muss sich erst von diesen Gedanken frei machen. Die Protagonistin dagegen geht auf die Suche, ganz Historikerin: Woher kommt eigentlich dieser Mythos der Mutterliebe? Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden selbst Kinder von armen Frauen nach der Geburt weggegeben und von Ammen aufgezogen - unter schrecklichsten Bedingungen. Das Konzept der Mutterliebe entwickelte sich erst mit der Entstehung der Nationalstaaten, weiß Christina Wessely heute. Kinder wurden plötzlich als künftige, hoffentlich staatstragende Bürger gesehen: "Und um (…) auch die Kindersterblichkeit zu senken und dieses Ammenwesen zurückzudrängen, wird - das ist jetzt sehr vereinfacht gesagt - gewissermaßen dieses Konzept der Mutterliebe erfunden, das auch damit einhergeht, dass Frauen ihre Kinder eben nicht mehr abgeben, sondern im Gegenzug eine relativ lange Zeit bei den Kindern bleiben."
"Liebesmühe" ist ein wichtiges Buch - es zwingt die Leserin, einen Prozess durchzumachen, eine Perspektive einzunehmen, die ihr im ersten Moment überzeichnet vorkommt. Es hinterfragt gesellschaftliche Ansichten, die krank machen. Und es überzeugt am Ende mit einer Wendung, die einen kitschfrei zum Heulen bringt.
Liebesmühe
- Seitenzahl:
- 176 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3446279452
- Preis:
- 22 €