Christina Wessely: Das erschreckende Ausbleiben von Mutterliebe
In ihrem Romanessay "Liebesmühe" erzählt die Professorin von einer Mutter, die eine postpartale Depression entwickelt: eine sehr persönliche Geschichte. Im Gespräch erklärt die Historikerin die Hintergründe.
Christina Wessely ist Historikerin und Professorin für Kulturgeschichte des Wissens an der Leuphana Uni in Lüneburg; geboren 1976 in Wien. Bisher hat sie wissenschaftliche Bücher geschrieben, etwa über die Kulturgeschichte von Zoologischen Gärten oder die Mensch-Tier-Beziehung. Nun erscheint bei Hanser ihr literarisches Debüt. "Liebesmühe" erzählt die Geschichte einer Mutter, die nach der Geburt ihres Sohnes, eines Wunschkindes, schnell merkt, dass sie dieses Kind nicht so richtig lieben kann. Die von der Gesellschaft als "natürlich" gegebene Mutterliebe bleibt aus. So wird die Mutterwerdung für die Frau zum Albtraum, das Kind zum "unüberwindbaren Gegner", den es auszutricksen gilt. Sie denkt an Suizid. Einen Auszug des Interviews über das Buch lesen Sie hier, das ganze Gespräch hören Sie bei NDR Kultur.
Im Prolog des Buches outet sich die Schreibende als Frau, die sich von sich selbst entfremdet hat. Es heißt dann, die Erlösung, damit das Schreiben gelingen kann, ist die dritte Person. Wir lernen eine Protagonistin kennen, die nicht aus der Ich-Perspektive schreibt, sondern es wird immer in der dritten Person von ihr erzählt. Wie kommt es dazu, dass sie nicht "Ich" sagen kann?
Christina Wessely: Also nicht nur das Kind steht dieser Mutter fremd gegenüber, sondern eigentlich ganz plötzlich sie sich selbst. Also sie kann auch gar nicht mehr "Ich" sagen, weil sie das Gefühl hat, dieses "Ich", sich selbst eigentlich verloren zu haben. So viele Gewissheiten, von denen sie eigentlich überzeugt war als Frau, als Wissenschaftlerin, als Feministin, die scheinen praktisch mit der Geburt dieses Kindes nicht mehr gültig zu sein.
Es wird fast schon zum Kampf, das Miteinander mit dem Kind, auch weil die Frau alles richtig machen will oder machen muss, weil das von ihr verlangt wird. Worin besteht die große Schwierigkeit für die Mutter?
Christina Wessely: Ich glaube, die große Zumutung ist dieses ganz erschreckende Ausbleiben von Mutterliebe. Eigentlich wird Mutterliebe in unserer Gesellschaft als etwas total Natürliches markiert, also als etwas, was sich ganz selbstverständlich und unhinterfragt einstellt. Dieser Schock, den das nicht blitzartige Einfahren dieser unendlichen und auch opferbereiten Mutterliebe bedeutet, dieser Schrecken ist wirklich unermesslich für diese Frau.
Sie gehen in der Erzählung zurück ins 18. Jahrhundert, in eine Zeit, in der Mütter ihre Kinder oft gar nicht selbst aufgezogen haben, sondern sofort weggegeben haben. Wie erklären Sie diese Idee der "naturgegebenen" Mutterliebe, wie ist sie überhaupt entstanden?
Christina Wessely: Das Konzept der Mutterliebe entwickelt sich tatsächlich erst mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und insbesondere auch mit der Entstehung der Nationalstaaten, weil es plötzlich darum geht, Bürger groß zu ziehen - also Bürger zur Welt zu bringen und sie zu zukünftig staatstragenden Menschen zu erziehen. Um das zu gewährleisten, um die Kindersterblichkeit zu senken und das Ammenwesen zurückzudrängen, wird - das ist jetzt sehr vereinfacht gesagt - gewissermaßen dieses Konzept der Mutterliebe erfunden, das auch damit einhergeht, dass Frauen ihre Kinder eben nicht mehr abgeben, sondern im Gegenzug eine relativ lange Zeit auch bei den Kindern bleiben.
Das Interview führte Andrea Schwyzer.