Roman "Die Zeit der Verluste": Trauerbewältigung ohne Tiefe
Daniel Schreiber hat sich, ausgehend vom Tod seines Vaters, der Trauer angenommen. "Die Zeit der Verluste" hat durchaus poetische Passagen - und doch wirkt der Text konstruiert.
Das Gefühl der Trauer ist wie der Nebel über Venedig:
Der Nebel verwandelt die Stadt in ein großes, phantomartiges Ölgemälde, ein glorioses, viel zu schönes und elegantes Bild der Trauer. Er legt sich wie ein Schleier über alle Dinge und kündigt, indem er sie der Sichtbarkeit entzieht, sanft ihr Verschwinden an. Leseprobe
Hier, in dieser Stadt, die dem Untergang geweiht ist, die wie ein einbalsamierter Körper vor sich hinsiecht, umgeben von Wasser, hier wird sich Daniel Schreiber seiner Verluste bewusst.
Die Wellen der Trauer treffen mich hier mit größerer Wucht, nehmen mich mit aufs Meer, mit auf das große, überall greifbare Meer der Trauer dort draußen, mit auf den Ozean unserer aller leichten und schweren, bearbeiteten und unbearbeiteten Abschiede. Sicherlich ist es an der Zeit für diese Auseinandersetzung. Leseprobe
Merkwürdig oberflächliche Trauerbewältigung
Zwei Jahre ist der Tod des Vaters her. Eine Krebserkrankung. Zwei Jahre ist Daniel Schreiber vor seinen Gefühlen davongelaufen, hat sie mit Arbeit weggedrückt. Nun, endlich, denkt er über seine persönliche Trauer nach, aber auch über den Verlust gesellschaftlicher Sicherheiten, ausgelöst durch Krisen wie den Klimawandel, radikale Denkweisen oder Kriege. Schade nur: Er erwähnt diese verstörenden Veränderungen in unserer Welt lediglich; er bearbeitet sie kaum. Zwar fließen viele Gedanken namhafter Autoren und Philosophinnen ein, doch selbst die persönliche Trauerbewältigung bleibt merkwürdig oberflächlich und wird immer wieder von Alltagsschilderungen unterbrochen. Denn: Ein Tag mit Daniel Schreiber in Venedig, das heißt auch: mit ihm aufstehen, eine Zigarette anzünden, Freundinnen zum Yoga treffen, Essen gehen.
Diese Beschreibungen nehmen im Buch einen großen Raum ein. Will der Autor damit zeigen, wie schwer sich Trauerarbeit im Alltag einbinden lässt? Will er den Gefühlen des Verlustes die Schwere nehmen? Aber warum? Er selbst plädiert bei rbb Kultur dafür, sich der Trauer zu stellen - mit allen Konsequenzen: "Trauer kann eigentlich erst dann beginnen - die echte Trauerarbeit -, wenn wir aufhören, davor wegzulaufen, wenn wir uns dem Schmerz stellen. Gerade dieser Impuls, uns dem Schmerz nicht zu stellen, ist das, was uns daran hindert, durch die Trauer zu kommen. Der Schmerz gehört dazu und dem kann man nicht ausweichen."
Es sind solche Gemeinplätze, die sich im Buch leider allzu oft wiederholen. Nähe entsteht dagegen in der Auseinandersetzung mit dem Vater und dessen Umgang mit den Traumata seines eigenen Lebens. Schreibers Vater ist in der Nachkriegszeit auf einem Hof aufgewachsen mit einem gewalttätigen Vater, der ihn verachtet hat. Dass dies nicht sein leiblicher Vater war, erfährt er erst im Alter von 50 Jahren. Eine Geschichte, die betroffen macht.
Dem Roman fehlt eine zweite Ebene
"Die Zeit der Verluste" hat durchaus poetische Passagen und als Leserin erkennt man sich in mancher Gefühlsbeschreibung wieder. Und doch wirkt der Text konstruiert, es fehlt ihm eine zweite, soghafte Ebene. Am Ende verspricht Schreiber zuversichtlich zu bleiben, denn die Zukunft sei ja noch nicht geschrieben:
Es wird eine andere Zuversicht sein, sie wird sich weniger hoffnungsvoll anfühlen, angepasster, informierter, realistischer als früher, es wird eine Zuversicht gesenkter Erwartungen sein. Doch ich werde beginnen, mit ihr durch den Tag zu gehen, und irgendwann wird sie ein Gefühl sein, das mir vertraut vorkommt, das ich, wenn es mir schlecht geht, wie ein besonders schönes und warmes Kleidungsstück überziehen kann. Leseprobe
Die Zeit der Verluste
- Seitenzahl:
- 144 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hanser Berlin
- Bestellnummer:
- 978-3-550-20268-1
- Preis:
- 22 €