"Juli, August, September": Olga Grjasnowas erfolglose Identitätssuche
Die gebürtige Aserbaidschanerin Olga Grjasnowa lebt schon seit langem in Deutschland. Ihr neuer Roman ist zwar so souverän und temporeich wie dessen Vorgänger, aber leider deutlich weniger erkenntnisreich.
Am Ende dieses Sommers bleiben viele Fragen offen, eigentlich fast alle. Auch nach mehr als 200 Seiten persönlicher wie kollektiver Sinnsuche im Juli, August, September 2023. Wer bin ich eigentlich wirklich: Ludmila, Ljuda, Lou?
Sergej war derjenige, der Ljuda, meinen Kosenamen, zu Lou abkürzte, was mir gefiel, denn so hatte er nichts mit mir zu tun und gab mir eine neue Identität. Leseprobe
Eine neue Identität? Aber welche? Ludmila ist Jüdin und vor vielen Jahren als sogenannter "Kontingentflüchtling" aus Aserbaidschan nach Deutschland gekommen - und ihrer Schöpferin Olga Grjasnowa damit sehr ähnlich: "Der Roman hat natürlich autobiografische Züge", gibt Grjasnowa zu. Und es ist auch etwas, womit der Roman spielt. Es ist nicht wirklich meine Autobiografie, es sind sehr viele Dinge, die ich mit Lou gemeinsam habe."
Wie jüdisch erziehen wir unser Kind?
Im Juli, zu Beginn des Romans, stellt sich Lou und Sergej, dem wohlsituierten Künstlerpaar aus Berlin, immer drängender die Frage, wie jüdisch sie eigentlich sein und ihre kleine Tochter erziehen wollen - als nachgeborene, nicht wirklich religiöse Juden im Land der Täter. Jüdisch sein? Hier? Heute? "Tatsächlich hat für mich angefangen, mein Jüdischsein eine größere Rolle zu spielen, als ich selbst Mutter war, weil sich dann die Frage gestellt hat, was ich weitergebe, wie ich meine Kinder erziehe", erzählt Grjasnowa. "Vor allem bin ich nicht wirklich religiös. Das heißt, mein Judentum hat per se etwas mehr von der kulturellen Performance und nicht etwas von einer Religion. Die Kultur spielt eine sehr große Rolle, aber nicht die Religion. Und wenn das so ist, was mache ich dann mit meinen Kindern? Gebe ich ihnen bestimmte Teile der Kultur mit?"
Grjasnowa: "Ich glaube, dass Lügen zum Familienalltag gehören"
Lou stürzen diese Fragen in keine große Identitätskrise. Dazu ist sie viel zu selbstbewusst, viel zu sehr mit sich, ihrem Kind, ihrer Beziehung beschäftigt. Die Fragen stellen sich ihr nur, als sie - wir schreiben mittlerweile den Monat August - mitsamt der in alle Welt verstreuten Mischpoke zum 90. Geburtstag ihrer Tante Maya nach Gran Canaria eingeladen wird. Und da sind sie dann, die ganzen noch lebenden Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, deren Söhne und Töchter - und es wird so skurril, wie Familienfeiern nun einmal skurril sind.
"Ich glaube nicht, dass es bei jüdischen Familien etwas anderes ist, sondern ich glaube, dass Lügen mitunter zum Familienalltag gehören", sagt Grjasnowa. "Vielleicht auch noch nicht einmal Lügen, sondern in jeder Familie gibt es bestimmte Geschichten, die man im Laufe des Lebens unterschiedlich erzählt."
In Lous Familie ist es - wie bei so vielen jüdischen Familien - die Frage danach, welche Katastrophe der Holocaust unter ihnen angerichtet hat und welche traumatischen Folgen er bis heute hinterlässt. Für Lou ist auf Gran Canaria die Chance gekommen, die Geschichten, die ihre Tante Maya darüber verbreitet, mit denen der Mutter abzugleichen.
Maya war die letzte Zeugin, und sie veränderte die Geschichte vom Überleben nach ihren Bedürfnissen. (…) Sie manipulierte die Erinnerung und war doch zugleich die Einzige, die sich überhaupt noch erinnern konnte. Darum galt nun Mayas Wort. Leseprobe
Entwicklung ist nicht erkennbar
Für Lou rücken sich am Rande der Familienfeier einige Verdrehungen, Verzerrungen, Verstümmelungen ihrer Familiengeschichte zurecht. Doch statt danach schnurstracks in ihren Alltag, in ihr altes Leben nach Berlin zurückzukehren, fliegt sie außerplanmäßig nach Israel. Etwa auf der Suche nach weiteren Antworten auf die Fragen nach ihrer Zugehörigkeit, ihrer Verwurzelung? Das wäre plausibel und folgerichtig. Doch so zwingend scheint es dann doch nicht zu sein.
Und so kehren Lou aus Spanien beziehungsweise Israel und Sergej von einer Konzertreise mit einem potenziellen Seitensprung fast gleichzeitig nach Berlin zurück. Ende Juli aufgebrochen haben sie sich drei Monate lang um sich selbst und im Kreis gedreht, ohne irgendwie weitergekommen zu sein. Entwicklung ist nicht erkennbar.
Olga Grjasnowas neuer Roman ist zwar so souverän und temporeich wie dessen Vorgänger, etwa "Der Russe ist einer, der Birken liebt" oder "Gott ist nicht schüchtern", aber leider deutlich weniger erkenntnisreich. Lous Identitätssuche bringt leider nicht weiter - sie nicht und uns nicht. Schade.
Juli, August, September
- Seitenzahl:
- 224 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hanser Berlin
- Bestellnummer:
- 978-3-446-28169-1
- Preis:
- 24 €