"Wir kommen": 18 Autor*innen schreiben über weibliches Begehren
In ihrem Kollektivroman "Wir kommen" lässt das feministische Literatur-Kollektiv Liquid Center Autor*innen aus verschiedenen Generationen über weibliches Begehren, Sex und das Alter schreiben. Mit dabei sind unter anderem Ulrike Draesner, Olga Grjasnowa und Kim de l'Horizon.
"Ich glaube, der Ursprung meines Begehrens liegt im Tod. Im Wissen darum, dass auch ich einmal sterben muss." Leseprobe
Was kommt heraus, wenn ganz unterschiedliche Autor*innen wochenlang gemeinsam in einem Online-Text-Dokument schreiben? Wenn sie komplett anonym ihre Gedanken zu weiblichem Begehren, Sex und Alter in Worte fassen? Das wollten die Schriftstellerinnen Julia Wolf, Verena Güntner und Elisabeth R. Hager herausfinden. Ihr dreiköpfiges Literatur-Kollektiv Liquid Center haben sie für dieses Experiment erweitert.
Promis aus der Literaturszene und Newcomer*innen schreiben als Kollektiv
"Wir wollten, dass verschiedene Generationen miteinander ins Gespräch kommen und haben daraufhin Kolleg*innen, die wir sehr schätzen, deren Arbeit wir bewundern, angefragt", erklärt Güntner. Dabei habe es auch einige Absagen gegeben. Aber 15 Autor*innen sagten letztlich ja. Mit dabei sind auch Promis der Literaturszene wie Ulrike Draesner, Olga Grjasnowa und Kim de l'Horizon. Aber auch Autor*innen, die noch weniger bekannt sind, haben mitgeschrieben: Etwa die Hamburger Künstlerin Clara Umbach oder Simoné Goldschmidt-Lechner, ebenfalls aus Hamburg.
Goldschmidt-Lechner hat die Idee des Kollektiv-Romans sofort überzeugt: "Es ist sehr spannend, neue Formen für das klassische literarische Schreiben zu finden, in denen das Ego von Autorinnen ein bisschen zurücktreten kann. Beim dem Thema hatte ich meine Bedenken, weil das natürlich auch eine gewisse Offenlegung ist. Irgendwie denkt man ja, dass die ganzen Erfahrungen, die als nicht männliche Person ja nicht unbedingt immer positiv sind, vielleicht nur individuelle Erfahrungen sind."
Zwischen sinnlicher Poesie, nüchterner Sachlichkeit und frivolem Humor
Im Schreibprozess stellte sich aber schnell heraus, wie viele Erfahrungen die Autor*innen teilen. Nach sechs Wochen schlossen die drei Initiatorinnen das Dokument und begannen, die gesammelten Werke zu sichten, zu filtern, zu sortieren. Es war ein zeitaufwändiger und vor allem verantwortungsvoller Prozess, wie Güntner erklärt: "Es wurden uns hier zum Teil auch Dinge anvertraut, von denen wir wussten, dass es sein kann, dass es das erste Mal ist, dass die Autorinnen darüber schreiben. Diese Dinge haben wir sehr ernst genommen und versucht, ihnen auch gerecht zu werden."
Die unverblümten, oft überraschenden Texte schwanken im Tonfall zwischen sinnlicher Poesie und nüchterner Sachlichkeit, zwischen frivolem Humor und philosophischer Betrachtung.
"Hab mich neulich lange über das Wort Begehren unterhalten. Ich glaube, ich mag Verlangen lieber."
"Verlangen hat etwas Mächtiges an sich - es ist zum Willen gewordenes Begehren."
"Verlangen ist hinlangen, zulangen, was machen, um zur Lust zu gelangen."
Leseproben
Die Autor*innen befragen, ergänzen, kommentieren die Texte der Anderen. Dabei geht es um die erste sexuelle Erregung und die Frage, ob ich mit faltigem Gesicht noch junge Körper begehren darf. Es geht um Menstruation und Masturbation, um Gewalterfahrungen und Geburtsschmerzen, um Schuld und Scham.
"Große Sprachkünstlerinnen mit ganz unterschiedlichen Zugängen"
Ein Buch als Gruppentherapie? Nein, betont Autorin Elisabeth R. Hager vom Liquid Center - "Wir kommen" sei vor allem ein Stück Literatur. "Wir hätten jede mögliche 18 Leute, hätten 18 Apothekerinnen genauso fragen können wie 18 Busfahrerinnen oder 18 Frauen, die bei Aldi an der Kasse sitzen", so Hager. "Wir hätten ähnliche, schlimme Geschichten generiert. Die Personen, die wir gefragt haben, sind einfach große Sprachkünstlerinnen mit ganz unterschiedlichen Zugängen, eigenen sprachlichen Kompetenzen, und das macht die Sache, das hebt es auf eine andere Ebene."
"Oh ja, ein Oktoflirt, ein Krakentanz."
"Ich mag es, wenn sich deine Noppen sanft an meinem Körper festsaugen."
"Ich lausche dem Plopp-Geräusch. Noppe für Noppe."
Leseproben
18 Literat*innen lassen ihre Sprachkunst miteinander verschmelzen. "Habe ich das geschrieben, hat das jemand anders geschrieben?", fragt sich im Nachhinein nicht nur Julia Wolf an einigen Stellen. "Ich finde es besonders schön und bereichernd, dass sich die 'Besitzverhältnisse' der Texte auflösen. Dass sie wirklich zu einem Ganzen werden und dass dann auch Sachen, die mir wichtig sind, vielleicht von einer anderen Person geschrieben werden und nicht von mir selbst."
Literarischer Genuss, Masturbationsvorlage oder Denkanstoß zur Selbstreflexion?
Was bedeutet "Wir kommen" für die Autor*innen? Ist das Buch ein künstlerisches Experiment? Ein politisches Statement? Eine Selbsthilfegruppe? Oder doch einfach ein neuer Roman? Das beantwortet jede womöglich ein bisschen anders. Und genauso unterschiedlich kann auch die Leserin den Text begreifen und nutzen. Als literarischen Genuss oder Masturbationsvorlage, zur Selbstvergewisserung oder als Reibungsfläche. Als Denkanstoß zur Selbstreflexion oder für einen neuen Blickwinkel auf die Welt.
Wir kommen
- Seitenzahl:
- 208 Seiten
- Genre:
- Kollektivroman
- Verlag:
- Dumont
- Veröffentlichungsdatum:
- 13.03.2024
- Bestellnummer:
- 978-3-8321-6833-9
- Preis:
- 25 €