"In einer dunkelblauen Stunde": Misslungener Roman von Peter Stamm
Menschliche Abgründe und gebrochene Biografien sind Peter Stamm vertraut. An seinem 60. Geburtstag erscheint nun sein neuer Roman "In einer dunkelblauen Stunde", in dem leider nicht viel passiert.
"I know not what tomorrow will bring". Dieses dem Roman vorangestellte Zitat von Fernando Pessoa beschreibt das, was die 40-jährige Dokumentarfilmerin Andrea erlebt, ziemlich präzise. Sie weiß wirklich nicht, was der nächste Tag für sie bereithält. Eigentlich will sie, zusammen mit ihrem Freund Thomas, ein Porträt über den Schriftsteller Richard Wechsler drehen. Aber nach und nach wird klar, dass dieser Film nicht zustande kommen wird. Mal streikt der Ton bei einer Aufnahme, mal erscheint der Protagonist nicht zum verabredeten Termin und dann äußert der auch noch grundsätzliche Zweifel an dem Vorhaben:
"Ich glaube", sagte Wechsler, "ich habe mir von diesem Film versprochen, etwas über mich selbst zu erfahren durch ihren Blick auf mich. Aber das ist Unsinn. Warum sollte jemand, der mich kaum kennt, etwas über mich herausfinden, was ich nicht längst weiß. (...) Und morgen bin ich ein anderer." Leseprobe
Auf den Spuren von Richard Wechsler
Andrea und Thomas kommen Richard Wechsler einfach nicht nahe. Das Konzept, ihn mit der Kamera zu begleiten, ihn nach seinem Leben und seinen Büchern zu befragen, geht nicht auf. Stellt sich also die Frage, warum Wechsler überhaupt eingewilligt hat, sich filmen zu lassen.
Damit das Porträt vielleicht noch zustande kommt, gräbt Andrea in Wechslers Vergangenheit. Bei ihren Recherchen stößt sie auf Judith, Pfarrerin, verheiratet, Mutter von zwei Kindern. Sie kennt Richard schon seit Schultagen und Andrea erfährt, dass Judith Richards große Liebe war und sie eine Affäre hatten. Die Frauen freunden sich an, und als Richard nach einer schweren Erkrankung gestorben ist, beziehen die beiden Komplizinnen sogar vorübergehend sein Haus in Frankreich.
"Wir müssten hier das Richard-Wechsler-Museum einrichten, einfach alles so lassen, wie es ist. Wir würden aber niemanden reinlassen, nur draußen ein Schild anbringen, Richard-Wechsler-Museum, permanent geschlossen. Und wir zwei wären die Kuratorinnen und würden Wechselausstellungen einrichten", sagt Judith. "Richard Wechslers Sammlung löchriger Socken." Leseprobe
Peter Stamms Roman tritt auf der Stelle
Auch das bleibt nur ein Gedankenspiel. Denn das Problem des Romans ist, dass nichts passiert, dass er auf der Stelle tritt. Man beobachtet die Erzählerin dabei, wie sie Wechslers Leben beobachtet. Andrea will herausfinden, wer dieser Mann ist, was ihn antreibt, was nach seinem Tod von ihm bleibt. Und stößt dabei auf: nichts. Das einzige Geheimnis - die Liason mit Judith - bleibt keins. Andrea sucht antriebslos nach Relevantem, auch in ihrem eigenen Leben. "Ich langweile mich mit mir selbst", sagt sie einmal. Und das überträgt sich auf die Lektüre. Als das Filmprojekt endgültig gescheitert ist, gibt es keine Zäsur, keine Neuausrichtung in dieser nebulösen Konstellation zwischen Andrea und Richard Wechsler.
"Die Idee des Scheiterns scheint Wechsler zu faszinieren. "Man müsste das Scheitern mitdenken", sagt er. "Als Teil der Entwicklung des Werks. Es könnte ein Film werden über die Unmöglichkeit, diesen Film zu machen." Leseprobe
Aber "In einer dunkelblauen Stunde" bleibt ein konjunktivischer Roman, ein auf die Dauer lähmendes Ausloten von Möglichkeiten und von unerfüllt bleibenden Ideen. Dass sich Peter Stamm ausgerechnet zu einem Filmprojekt bereit erklärt hat, das die Entstehung des Buchs für das Schweizer Fernsehen dokumentiert, ist vor dem Hintergrund dieses Romans eine echte Pointe. Es bleibt zu hoffen, dass Stamm, der zuletzt den großartigen Erzählungsband "Wenn es dunkel wird" geschrieben hat, diesen Satz nicht zur Maxime seines Schriftstellerlebens erhoben hat: "Das Paradies wäre der Ort, an dem es keine Geschichten gibt." Denn das wäre eine Bankrotterklärung an sein Schreiben.
In einer dunkelblauen Stunde
- Seitenzahl:
- 256 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- S. Fischer
- Bestellnummer:
- 978-3-10-397128-6
- Preis:
- 24 €