Cover  Helmut Krausser, „Freundschaft und Vergeltung“ © Berlin Verlag
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AUDIO: "Freundschaft und Vergeltung": Kraussers Cold Case im Jungeninternat (5 Min)

"Freundschaft und Vergeltung": Kraussers Cold Case im Jungeninternat

Stand: 02.07.2024 13:32 Uhr

Kraussers neuer Roman "Freundschaft und Vergeltung" hat wieder alles, was Kraussers Romane immer schon ausgemacht hat: eine komplexe Story, viel Musik - sonst oft klassische, diesmal vor allem Rockmusik der späten 60er - und reichlich Testosteron.

von Jürgen Deppe

Krausser ist einer, an dem sich die Geister scheiden: Ist er ein verkanntes Genie, wie Daniel Kehlmann den manischen Vielschreiber vor nicht allzu langer Zeit einordnete? Oder doch eher ein erotomaner Kotzbrocken à la Klaus Kinski, wie ihn die "Süddeutsche Zeitung" mal darstellte. In jedem Fall ist er wahnsinnig. Wahnsinnig produktiv! Mit "Freundschaft und Vergeltung" ist sein 19. Roman erschienen.

Ein cold case und persönliches Trauma

Es erzählt Anthony Brewer, genannt "Tony", 71, Rechtsanwalt im Ruhestand. Rückblickend rekonstruiert er, was Mitte der 60er am Jungeninternat Raven Hall im südenglischen Westcott geschehen ist. Zumindest, so gut es geht. Denn das "Raven Hall Mystery", als das das Verschwinden von gleich vier Menschen im Winter 1965/66 in die Annalen eingegangen ist, ist ein "cold case", ein ungelöster Fall.

Damals war Tony dort Schüler im Abschlussjahrgang und teilte sich ein Zimmer mit drei anderen Jungs. Der auffälligste, weil charismatischste, verwegenste und irgendwie auch abgedrehteste war Christian Bradshaw, genannt "Chris". Mit 18 ein Jahr älter als Tony.

"Wir waren Jungs im Alter der schlimmsten Testosteron-Diktatur, es sollte, es muss erwähnt sein; manches kann sonst nicht angemessen verstanden werden." Leseprobe

Zum Beispiel, dass etwa Chris, der Sohn des reichen Raven Hall-Mäzens John Bradshaw, seine zehn Jahre ältere Lehrerin Deborah unverhohlen anmachte, ja, regelrecht bedrängte.

When Rock and Roll Dreams Come Through

Nicht der einzige Skandal, den Chris auslöste, aber der verhängnisvollste. Denn kurz nachdem die gestrenge Raven-Hall-Direktorin Iris Pinkerton resolut eingeschritten war, um für Ordnung zu sorgen, verschwand sie spurlos. Und bald darauf auch Chris‘ Vater John, der für ein klärendes Gespräch mit seinem Sohn nach Raven Hall gekommen war. Die Polizei rückte an und auch die Presse. Aber niemand fand etwas. Und auch keine Spuren von Chris und seiner angebeteten Lehrerin Deborah, die kurz darauf ebenfalls spurlos verschwanden. Es war mysteriös. Und anfangs auch aufsehenerregend.

"Die Boulevardzeitungen hatten den Begriff vom RAVEN HALL MYSTERY geprägt. Irgendwann ließ das Interesse der Leser nach, obwohl es zwischendurch durch viele Spekulationen künstlich am Leben gehalten wurde. Dann nichts mehr. Diese Stille. Dieses Schweigen. Das Rätsel." Leseprobe

20 Jahre danach, wir schreiben das Jahr 1985, versucht Tony Brewer anhand der alten Ermittlungsergebnisse das Rätsel zu lösen. Vergeblich. Noch einmal 30 Jahre später dann wieder. Es geht Brewer um den Kriminalfall, ja, vor allem aber um die Frage, was das eigentlich für eine Freundschaft war, die ihn seinerzeit mit Chris Bradshaw verbunden hat.

Lebensphilosophische Fragen - aber nicht preisverdächtig

"Will man wirklich mit dem Leben abschließen, wenn es irgendwo noch unerhörte Farben gibt?" Leseprobe

Eine typische Krausser-Frage. Wer sonst würde nach "unerhörten Farben" fragen? Das tut Krausser nun schon mehr als 60 literarische Werke und etliche klassische Kompositionen lang. Er bleibt, wie sein Romanheld Brewer, ein Suchender, ein Fragender, ein sich Wundernder über die Obskuritäten der Welt. Und wenn er dann als Antwort erhält: "So könnte es sich zugetragen haben." Dann fragt er weiter. Einen Roman lang. Oder zwei. Oder drei. Er fragt weiter, in der Hoffnung, damit Selbstbefragungen zu hinterlassen und in Erinnerung zu bleiben: "In uns allen wühlt die Furcht, von keinerlei Bedeutung zu sein."

Mit "Freundschaft und Vergeltung" wird Krausser in der Literaturgeschichte keine bleibenden Spuren hinterlassen. Aber das hat er längst mit Romanen wie "Melodien", "Thanatos" oder "Ultrachronos". Zum 60. Geburtstag, den Krausser im Juli feiert, ist das keine schlechte Bilanz.

Freundschaft und Vergeltung

von Helmut  Krausser
Seitenzahl:
352 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Berlin Verlag
Bestellnummer:
978-3-8270-1416-0
Preis:
25 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Morgen | 26.06.2024 | 12:40 Uhr

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