Buch-Cover: Dževad Karahasan - Einübung ins Schweben © Suhrkamp Verlag

"Einübung ins Schweben": Vom Humanisten zum Unmenschen

Stand: 25.01.2023 06:00 Uhr

Dževad Karahasan hat in "Tagebuch der Übersiedlung" die Belagerung Sarajevos essayistisch verarbeitet hat. Mit "Einübung ins Schweben" hat der Autor die Ereignisse nun auch in einer fiktiven Form verarbeitet.

von Tobias Wenzel

In der Grenzerfahrung Krieg, ist sich Peter Hurd sicher, kann er seinem eigenen Ich auf den Grund gehen und als Frucht der Erkenntnis einen Schwebezustand empfinden. Eigentlich wollte Hurd - Altertumsforscher, Geistesgröße seiner Zeit und Hauptfigur in Dževad Karahasans neuem Roman - Anfang April 1992 nur ein Buch in Sarajevo vorstellen. Aber dann beginnt die Belagerung der Stadt und Hurd beschließt zu bleiben. Gemeinsam mit seinem bosnischen Übersetzer, dem Ich-Erzähler des Romans, wird Hurd ein halbes Jahr Zeuge brutaler Gewalt.

"Einübung ins Schweben": Roman über die Belagerung Sarajevos

Karahasan beschreibt hier zum ersten Mal äußerst explizit die tagtägliche Dramatik des Kriegs. In seinem essayistischen "Tagebuch der Übersiedlung", das während der Belagerung entstand, streifte er diese Dramatik nur: "Hätte ich damals versucht, die Grausamkeiten des Krieges, das Schreckliche, das Unerträgliche zu notieren, wäre ich sicherlich am Ende der Belagerung kein normaler Mensch mehr gewesen. Denn das hieße zum zweiten Mal etwas Schreckliches zu erleben. Über 30 Jahre nach dem Ende des Krieges, kann ich darüber schreiben ohne Angst, verrückt zu werden."

Im Roman singt eine junge Frau für eine Hochzeitsgesellschaft ein Lied zu Ende, obwohl in ihrer Nähe eine Granate einschlägt. "Was hätte ich denn tun können?", fragt sie. "Erlauben, dass sie mein Lied ermorden?" Neben der Braut hängt über einem Stuhl ein blutiges Hemd. Ihr Verlobter ist im Krieg gefallen. Und da die Hochzeit schon geplant war, wird trotzdem, symbolisch und tränenreich, geheiratet.

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Schwebende Seelen, schwebende Stadt

Zum Entsetzen des Ich-Erzählers lebt Hurd im Krieg eine grenzenlose, amoralische Freiheit aus, hat Sex mit einem Mädchen, nimmt Drogen, schließt sich zwielichtigen Gestalten an und schießt am Ende sogar von außen auf die belagerte Stadt. Offensichtlich, weil er sich so seiner Empathie, für ihn nun ein Zeichen der Schwäche, entledigen will. Anstatt, wie von ihm geplant, durch Selbsterkenntnis zu einem inneren Schweben zu gelangen, schwebt Peter Hurd schließlich in einem Dämmerzustand zwischen Drogenrausch und Wahn. Nicht nur daher der Titel des Romans "Einübung ins Schweben", erklärt Karahasan: "Damals in Sarajevo schwebte Rauch von verbrannten Autos und Häusern und so weiter. Es schwebten die Seelen der Ermordeten, die noch nicht begraben wurden. Es schwebte in Augenblicken die ganze Stadt. Denn man lebte in einer Zwischenzeit, in einem Zwischenzustand. Nichts war definitiv, nichts war sicher."

Sprach- und bildgewaltiger Roman von Dževad Karahasan

Dževad Karahasan ist mit seinem klugen neuen Roman ein Kunststück geglückt: Er erzählt sprach- und bildgewaltig, wie der Krieg einen humanistischen Denker zum unkontrollierten Unmenschen macht, schockiert den Leser dabei aber nicht nur, sondern amüsiert ihn auch. Etwa, wenn Peter Hurd, kurz vorm Wahnsinn, euphorisch tanzt und ausruft: "Ich bin die Wahrheit. [...] Oder nichts." Karahasan, der mit seiner Hauptfigur die Faszination für das Antike Griechenland und den Kulturpessimismus teilt, unterscheidet sich von Peter Hurd zum Glück in einem Punkt, sagt er: "Ich war Gott sei Dank schon immer vorsichtig genug oder verängstigt genug, um meine Dämonen schlafen zu lassen."

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Einübung ins Schweben

von Dževad Karahasan
Seitenzahl:
304 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Übersetzt von Katharina Wolf-Griesshaber
Verlag:
Suhrkamp
Veröffentlichungsdatum:
16. Januar 2023
Bestellnummer:
978-3-518-43122-1
Preis:
25,00 € €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 25.01.2023 | 12:40 Uhr

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