"Delphi" von Clare Pollard: Roman über Weissagungen und Orakel
Clare Pollards Buch "Delphi" hat in Großbritannien begeisterte Kritiken bekommen. Ein moderner, kluger und witziger Roman über die Suche nach Antworten in alten Mythen.
"Ich habe die Nase voll von der Zukunft". So steigt die Ich-Erzählerin ein. Es ist eine Altphilologin, die so souverän über einen soliden Bildungsfundus verfügt, dass sie die üblichen Bildungsbausteine wie ein Puzzle zerlegen und nach eigenem Gutdünken neu sortieren kann. Ihr Hobby sind Weissagungen und Orakel, die sie sich vornimmt. Handlesen, Tarotkarten oder Teeblätter deuten. Es gibt unüberschaubar viele Methoden und etliche haben großartige Namen wie "Rhapsodomantie: Weissagung aus der Dichtung"; "Fructomantie: Weissagung aus Obst" oder "Anthomantie: Weissagung aus Blumen". Erinnern wir uns, dass wir früher beim Abreißen von Wegerichstängeln voraussehen konnten, wie viele Kinder wir bekommen werden.
Die Suche nach Antworten auf heutige Fragen
Die Heldin kämpft im Jahr 2020 mit den Umständen der Coronapandemie. Ihre Ehe kriselt, beide Partner trampeln sich zuhause gegenseitig auf den Nerven herum. Mit dem zehnjährigen Sohn Xander ist überhaupt kein echtes Gespräch mehr möglich, er hat sich in seine Computerwelt zurückgezogen. Es entsteht unausweichlich eine in früheren Generationen noch unbekannte Form von weinerlichem Selbstmitleid.
In der globalisierten Welt (…) gibt es nur wenige Konsumgüter oder Handlungen, die nicht irgendwo auf der Welt Leiden verursachen - wie der sprichwörtliche Schlag eines Schmetterlingsflügels. Wenn ich das Licht anschalte, einer Freundin einen Kaffee ausgebe, ein T-Shirt anziehe, meinen Sohn mit dem Auto von der Schule abhole, Himbeeren außerhalb der Sommersaison kaufe, eine Talkshow anschaue, in der keine Schwarzen vertreten sind - mit praktisch jeder Alltagshandlung trage ich zum Elend der Welt bei. Wenn Gutsein bedeutet, keinem anderen Schaden zuzufügen, dann lebe ich in einem System, in dem Gutsein unmöglich geworden ist. Leseprobe
Es ist schon klar. Man steht heute auch unter unfassbar viel mehr Druck als früher. Unsere Ich-Erzählerin versucht, in der Antike, in den alten Mythen Antworten auf heutige Fragen zu finden:
Die Furien lieben Twitter. Ich glaube, sie haben einen Twitter-Account. Die Erinnyen. Die Säuferinnen mit den Schlangen im Haar und den schwarzen Gewändern. Als Kronos seinen Vater mit der Sichel kastrierte, entsprangen die Furien aus dem auf die Erde tropfenden Blut: Alekto, Megaira, Tisipone. Die tanzende Horrortruppe mit den bellenden Hundeköpfen, die nach Aufmerksamkeit und nach Rache dürsteten. Leseprobe
Natürlich sucht die Erzählerin auch nach einer neuen, weiblichen Sicht auf die überlieferten Geschichten:
Medea ist kein Archetyp. Sie ist ein von Euripides geschaffenes Ungeheuer. Leseprobe
"Delphi": Herrlich spöttischer Roman
Für die seelische Überforderung während des Lockdowns in London stehen der Erzählerin keine wirklichen inneren Widerstandskräfte zur Verfügung. Dann verliert sie ihren innig geliebten Sohn mehr und mehr aus dem Blick. Die Warnung einer Lehrerin nimmt sie eher als Angriff gegen sich selbst wahr, nicht als Hilfsangebot. So wird es im letzten Kapitel noch einmal eine dramatische Rettungsaktion geben.
"Delphi" ist ein moderner, kluger und witziger Roman. Mitunter herrlich spöttisch und anmaßend im Ton, verwegen und schön in neuen Sprachmustern.
Delphi
- Seitenzahl:
- 222 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Aufbau
- Bestellnummer:
- 978-3-351-03971-4
- Preis:
- 22 €