Comics 2024: Die interessantesten Neuerscheinungen des Jahres
Das Jahr 2024 geht langsam zur Neige und hat herausragende grafische Romane zu bieten - ob Graphic Novels für Erwachsene oder Comics für Kinder, von Bio-Pic über Western, von Science-Fiction bis Historien-Roman.
Die Bandbreite von Graphic Novels ist größer, als man denkt. Inhaltlich tun sie es den "normalen" Romanen gleich, hinzu kommen allerdings die unterschiedlichen Zeichenstile und -techniken. Immer mehr Leserinnen und Leser greifen zu den grafischen Erzählungen. Grund genug für einen Überblick über die interessantesten, spannendsten, schönsten und coolsten Neuerscheinungen aus diesem Jahr.
"Künstliche Intelligenz" - über Einsatzmöglichkeiten und Chancen von KI
Künstliche Intelligenz nimmt immer mehr Einzug in unser Leben und bestimmt auch immer mehr Gespräche mit Freunden, Verwandten oder Kollegen. Die wenigsten wissen, wie sie wirklich funktioniert, wie sie entsteht, wo und wie sie eingesetzt wird. Drei Franzosen wollen das ändern: der KI-Entwickler Arnold Zephir, die Zeichnerin Héloïse Chochois und der Autor Jean-Benoit Ferrant, spezialisiert auf interaktive Fiktion. Locker und frisch lassen die drei Franzosen das KI-Thema auf uns niederregnen. Héloïse Chochois schafft verständliche Infografiken gemixt mit klaren, farbigen Zeichnungen der Handlung. "Künstliche Intelligenz", so der Titel der Graphic Novel, lässt uns auf der letzten Seite schlauer sein - ob intelligenter, bleibt offen.
"Louise": Ein Buch wie ein Ausrufezeichen
Alles andere als künstlich ist das Leben der Louise Gütter, geboren 1879 im schweizerischen Hindelbank. Hof, Haushalt, Heirat - das Leben scheint für die junge Frau vorbestimmt, doch dann kommt ein Maler ums Eck. Sein Name: Cuno Amiet. Er gehört der Künstlervereinigung "Brücke" an. Und plötzlich steht sie Model für ihn und wird mit ihrem Körper in die Kunstgeschichte eingehen. Ihre Geschichte zeichnet - nein - malt Dinah Wernli nach. Und das macht sie mit Wucht, Kraft und viel Mut. Sie sprengt die Grenzen mit ihren großen, breiten Pinselstrichen. Füllt die Seiten mit Farben, die zu schwimmen scheinen, mal komplementär, mal nicht. Mal schält sich eine klare Darstellung aus dem Farbenrausch, mal verliert sich die Gegenständlichkeit darin. Wernli schafft es, die Kraft der Louise Gütter nicht nur zu zeigen, sondern sie auch mit Farben spürbar zu machen. "Louise" so der Titel, ist ein Buch wie ein Ausrufezeichen.
"Alison": Die Kunstwelt Londons in den 90ern
Alles andere als wuchtig, dafür zart, sensibel und sehr empathisch erzählt Lizzy Stewart die Geschichte von Alison, genauer Alison Porter. Diese wächst im englischen Dorset auf. Auch bei ihr scheint das Leben, im wahrsten Sinne, vorgezeichnet: frühe Liebe, frühe Ehe, frühe Langeweile. Auch bei ihr verändert die Begegnung mit der Kunst ihr Leben. Lizzy Stewart erzählt das in einer Mischung aus Prosa, Tagebuch und Comic-Anteilen. Outlines, ein wenig Tusche und vereinzelt Farben reichen aus, um eine intensive Geschichte lebendig werden zu lassen. Ein Lese- und Blättervergnügen - passend zum Herbst.
"Meute": Düstere Werwolf-Parabell
In einem wissenschaftlichen Labor Ende des 19. Jahrhunderts wird ein Werwolf gefangen gehalten - natürlich aus rein wissenschaftlichen Gründen. Die junge Studentin Margot freundet sich mit ihm an. Mit roughen Kohle-Strichen, gepaart mit zarten Outlines für die Figuren, zeichnet das Hamburger Grafik-Talent Noëlle Kröger eine Geschichte über Vorurteile und Diskriminierung. "Meute" ist düster und erhellend, beängstigend und beruhigend zugleich. Noëlle Kröger schafft den Spagat zwischen philosophischer Tiefe und morbider Unterhaltung. Man kann bei dieser Erzählweise nur gespannt auf kommende Bücher sein.
"Der Schrei": Action-geladener Nordic-Noir-Thriller
Kommissarin Sarah Geringen arbeitet bei der Osloer Polizei. Sie wird zu einer psychiatrischen Einrichtung mit Hochsicherheitstrakt gerufen. Dort gab es einen Todesfall. Der löst eine Lawine von ungeahnten Machenschaften aus. Die Ermittlerin stößt auf ein Wespennest von Vertuschung, Lügen, Gewalt und Geheimnissen, die weit über die Grenzen Norwegens hinausführen. Die Bilder dieses Action-geladenen Krimi-Comics mit dem Titel "Der Schrei" könnten aus einem kolorierten Storyboard für einen Hollywood-Blockbuster stammen. Richtig hell wird es auf den 144 Seiten nur selten. Kantig aber vor allem lebensnah sind die Zeichnungen von Laval Ng ; sie machen die Graphic Novel, die nach einer Geschichte von Nicolas Beugelt entstanden ist, zu einem spannenden Thriller, bei dem man ganz nebenbei auch noch viel über den Aufbau unseres Gehirns lernt.
"Der Rabe": Illustriertes Gedicht nach Edgar Allan Poe
108 Verse, 18 Strophen, ein Gedicht. Edgar Allen Poe hat vor 180 Jahren ein Gedicht verfasst, das bis heute zu einem der bekanntesten der US-amerikanischen Literatur gehört. "The Raven", zu Deutsch "Der Rabe", ist eine Kurzgeschichte in lyrischer Form, die um den nächtlichen Besuch des Vogels bei einem verzweifelten Mann geht, dessen Geliebte gerade gestorben ist. Das Osnabrücker Künstler-Ehepaar Peter Eickmeyer und Gaby von Borstel hat sich dieses Schwergewicht der Weltliteratur vorgenommen und es auf 64 Seiten illustriert. Entstanden ist eine grafisch opulente Bebilderung entlang eines sprichwörtlichen roten Fadens. Düster ist es immer, aber eben auch meisterlich - in Text und Zeichnung. Weltliteratur einmal anders. Ein Muss für Lyrik-Fans und solche, die es werden wollen.
"Audrey Hepburn" von Jean-Luc Cornette und Agnese Innocente
Es ist viel in Audrey Hepburns Leben passiert. Davon erzählen der Belgier Jean-Luc Cornette und die Französin Agnese Innocente in ihrem Biopic. Letztere hat unter anderem einige Zeit für Disney gearbeitet - und das schimmert bei den Zeichnungen, besonders in der Mimik mit ihren großen Kulleraugen und der Alterslosigkeit einiger Figuren, auch durch. Die Zeichner erzählen mit leichtem Strich, der oft an Sempé erinnert, und einer pastelligen Farbgebung Hepburns Leben chronologisch. Ihre Filmografie wird dabei etwas hölzern dramaturgisch eingeflochten - das schmälert das Lesevergnügen allerdings kein bisschen. Die Graphic Novel zeigt Hepburn, wie sie war: selbstbewusst, zerbrechlich und mit großem Herzen. Absolut lesenswert.
"Auf schwankendem Boden": Gezeichnete Essays von Kerstin Wichmann
Das Prädikat "absolut lesenswert" trifft auch auf das Buch von Kerstin Wichmann zu. Sechs gezeichnete Essays handeln vom Erinnern an vorherige Generationen, von Begegnungen und dem eigenen Rollenverständnis - oder einfach von Familientreffen. Dafür zieht die Autorin Briefe, Postkarten und Fotos mit ein, die sie mit einem zarten, fast schüchternen Strich darstellt. So wird ein eisig-frostiger Januarwind zum wohl zartesten und stillsten Gesäusel in der Comic-Geschichte. "Auf schwankendem Boden" ist ein leises Buch über die Genauigkeit beziehungsweise Ungenauigkeit von Erinnerung, die mit Zweifeln und Unsicherheit gespickt ist. Aus den vorsichtig mit Buntstift kolorierten Bildern entstehen sanftmütige kurze Geschichten und ein meisterlicher Dialog zwischen Inhalt und Darstellung. Ein philosophisches wie lebensnahes Buch.
"Erstkontakt" von Bruno Duhamel
Doug ist ein Typ Aussteiger, Marke Anti-Establishment. Er lebt zurückgezogen in den schottischen Highlands am Wasser und fotografiert gerne Reiher, Eulen, Otter. Eines Tages taucht ein riesiges, durchsichtiges Wassermonster vor ihm auf. Erstarrt drückt er dennoch den Auslöser und lädt die Bilder kurz darauf ins Netz. Unmittelbar danach kommt eine Lawine aus erschreckenden und zugleich urkomischen Begebenheiten ins Rollen. Der Franzose Bruno Duhamel hat sich diese witzige wie tiefgründige Geschichte über den heutigen Umgang und die Gefahren mit sozialen Netzwerken ausgedacht und gezeichnet. Sein klassischer Comic-Stil hat Witz, fast jedes Panel birgt einen Schmunzler. "Erstkontakt" ist ein kleines Juwel. Es zeigt, wie aktuell, unterhaltsam und vergnüglich grafische Erzählungen sein können. Leider ist der Spaß schon nach 70 Seiten zu Ende - es sei denn, man fängt gleich noch einmal von vorne an.
"Die Straße": Dystopischer "The Walking Dead"-Stoff
Die Welt ist am Ende, alles ist zerstört. Nur ein paar wenige Menschen haben überlebt. Ein Vater und sein kleiner Sohn machen sich mit einem mit wenigen Habseligkeiten beladenen Einkaufswagen aus der Eiseskälte auf den Weg in wärmere Gefilde ans Meer. Vorbei an marodierenden Gangs, Ruinen, kaputten Autos, in denen Leichen verwesen. Immer in Deckung und auf der Suche nach etwas Essbarem. Allgegenwärtig der Wunsch, irgendwie zu überleben, wenigstens den nächsten Tag. Der Zeichner Manu Larcenet ist ein alter Hase. Er hat bereits mit Lewis Trondheim und Joann Sfar zusammengearbeitet. Er hält oft Abstand zu den Figuren, um im nächsten Bild ganz dicht am Geschehen zu sein. Seine Bilder sind faszinierend und erschreckend detailliert. Man hört den eisigen Wind, riecht den Dreck und spürt die Hoffnungslosigkeit des Jungen und des Vaters. Auch wenn "Die Straße", so der Titel, dystopisch ist - man kann sich diesem "The Walking Dead"-Stoff nur äußerst schwer entziehen.
"Der verkehrte Himmel": Spannungsgeladene Action und viel Menschlichkeit
Tâm ist ein Teenie. Sie ist äußerst selbständig für ihr Alter und hat das Herz am rechten Fleck. Mit ihrem Bruder kauft sie auf dem sogenannten Polenmarkt in Berlin-Lichtenberg für das elterliche vietnamesische Restaurant ein Hackbeil-Messer, welches aber gleich wieder in einem Van bei einer merkwürdigen jungen Frau verschwindet. Was folgt, ist spannungsgeladene Action gepaart mit viel Menschlichkeit vor dem Hintergrund des internationalen Menschenhandels. Da gibt es tiefsinnige Gespräche, Schlägereien oder wilde Verfolgungsjagden. Der Berliner Autor und Zeichner Mikael Ross ist mit den lebensechten Dialogen und dem feinen Gespür für Rhythmik in Bild und Sprache ganz nah an der Realität. "Der verkehrte Himmel", so der Titel, überzeugt auf ganzer Linie und schafft die Balance zwischen inhaltlicher Tiefe und darstellerischer Leichtigkeit.
"Ready America": Typografisches Roadmovie
Von Oktober bis Dezember 2022 war die Zeichnerin Anna Haifisch Artist in Residence in der Villa Aurora, der Künstlerresidenz in Pacific Palisades in Los Angeles. Die grafikaffine Künstlerin war von den optischen Eindrücken in L.A. so geflasht, dass sie die Unmengen an Firmenschildern, Werbebannern, Plakatwänden und Schaufensterbeschriftungen und den, wie sie es nennt, "Eintopf aus Eleganz und Spaß" irgendwie festhalten musste - natürlich im typischen Haifisch-Stil mit Tusche und Buntstiften. "Ready America" heißt ihr DIN-A4-großes Buch. Darin sehen wir unter anderem eine Anzeige für einen Seafood-Markt mit einem grinsenden Hummer im Liegestuhl, oder wir werfen einen Blick ins Supermarktregal mit grafisch geordneten Steaksaucen. Anna Haifisch vermischt ihre Reality-Skizzen mit Momenten der Looney Tunes wie Duffy Duck oder Coyote und den traditionellen Haifisch-Tieren wie dem filigranen Windhund. "Ready America" ist ein typografisches Roadmovie mit Überraschungen, die entdeckt werden wollen.
"Die Katzen des Louvre": Poetisches Märchen als Manga
Eine kleine weiße Katze stromert, unbemerkt von den Besuchern, im Louvre herum. Gebannt hört das kleine Felltier den Ausführungen der Museumsführerin Cicilie zu, die eine tiefe Verbindung zu ihr spürt. Was märchenhaft klingt, entwickelt sich auch zu einem, denn die kleine Katze verschwindet … in einem Bild. Der japanische Zeichner Taiyo Matsumoto verbindet Traum und Wirklichkeit, Fantasie und Kunstgeschichte und schafft ein fantastisches Louvre-Universum auf über 430 Seiten in schwarz/weiß. Der heute 57-jährige Matsumoto wird für seinen ausgesprochen kantigen und kratzigen Zeichenstil über die Grenzen Japans hinaus geschätzt und verehrt. Ein Buch fernab des Manga-Mainstreams - eher ein poetisch-real-fantastisches Comic-Märchen.
"SCUM": Biopic über die Warhol-Attentäterin Valerie Solanas
In der Factory, der Künstlerkommune von Andy Warhol in New York City, fallen Schüsse - abgefeuert von Valerie Solanas, einer radikal-feministischen Aktivistin. Sie steht im Mittelpunkt der Graphic Novel der Spanier Bernardo Muñoz und Théa Rojzman. Sie zeigen, wie es aus der Sicht der jungen Frau zu der Tat kam. Erzählen von einer verlorenen Kindheit, von Missbrauch, einer trostlosen Jugend und dem Versuch, irgendwo anzukommen. Die Bilder, die Muñoz zeichnet sind derbe und ungeschönt und dennoch von einer kraftvollen Art mit klaren Figuren und einer Farbgebung die eine zweite Ebene zur Geschichte öffnet, da sie manchmal bunt wie ein LSD-Trip ist, oder monochrom wie eine blasse Erinnerung. "Die Tragödie der Valerie Solanas" zeigt empathisch das Leben einer jungen Frau mit ihren tiefen Verletzungen und leisen Hoffnungen.
"Zum Sterben schön": Feinste franco-belgische Comic-Krimi-Kunst
Ein Mann mit Dreitagebart, strubbeligen, rötlich-schimmernden Haaren und einer Zigarette im Mundwinkel schlendert auf der Suche nach einer blonden Frau am Straßenrand in einem Vorort von Sevilla. Tausend Kilometer weiter nördlich nimmt ein junger Mann einen Anruf entgegen. Angeblich sei dort eine Frau, die seine Nummer bei sich hatte und Hilfe bräuchte. Eine spannende Reise und Suche beginnt. Die beiden belgischen Autoren Jean-Michel Beuriot und Philippe Richelle sind alte Comic-Haudegen. Die Panels liegen wie die Steine bei einem französischen Chateau eng zusammen. Die Farben sind satt, die Texte knapp, die Figuren charakterstark. Ein Spaß, die Seiten umzublättern und dem Finale entgegenzufiebern. "Zum Sterben schön" für warme Sommerabende und solche, die es werden sollen.
"Fence":
Nicholas Cox großes Talent ist Fechten. Gerne würde er so berühmt und herausragend werden wie sein Vater, ein pensionierter Fechtchampion. Zu ihm hat er allerdings seit seiner Geburt keinen Kontakt. Egal. Er ergattert sich ein Stipendium an einer renommierten Fechtakademie. Was folgt sind viele Wettkämpfe und Lehrstunden - nicht nur auf der Planche. "Fence" stammt aus der Feder von C.S. Pacat, eine Autorin für Jugendromane und aus dem Zeichenstift von Johanna The Mad. Hier geht es ungezwungen queer zu. Jungs sind in Jungs verknallt, aber auch Mädels kommen nicht zu kurz. Alles hat bei "Fence" eine gewisse Leichtigkeit: die Zeichnungen, mit ihren kurzen Sprüngen in die Manga-Optik, und die Texte, die locker geschrieben sind. Unterhaltsam und spannend wie ein Highschool Musical.
"Murr": Kindercomic über einen Banditen, Schurken und Geläuterten
Er ist ein Bandit durch und durch - der kleine Murphy, genannt Murr. Im Wilden Westen wächst er auf. Selbst als Erwachsener lässt er nichts anbrennen. Er ist ein gefürchteter Falschspieler im Saloon und auch der Sheriff hat mit ihm ein Hühnchern zu rupfen. Es könnte ewig so gesetzlos für Murr weitergehen, doch eines Tages begegnet er dem Tod und alles wird anders - auch sein Charakter. Josephine Mark hat sich diese witzige wie tiefgründige Geschichte ausgedacht. Ihr Zeichenstil ist erfrischend reduziert. Da haben die Menschen dünne Beinchen und nur einen breiten Strich im Gesicht für die Augen - hingegen könnte der Tod auch aus einem Tim-Burton-Film gesprungen sein. Dank spritziger Dialoge wird die Geschichte um Murr und seine Endlichkeit zu einem großen Lesevergnügen für Kinder ab 12 Jahren.
"Columbusstraße": Intime Familiengeschichte im Zweiten Weltkrieg
Schon beim Cover wird klar: Das wird kein Feel-Good-Roman. Aus unzähligen Aufzeichnungen aus dem Nachlass, wie Briefen, Fotos und Dokumenten und einem langem Gespräch, puzzelt er die Vergangenheit zu einem Bild zusammen. In seinen Schwarz-Weiß-Zeichnungen erzählt er mit starken Kontrasten und kräftigen Outlines von den Wünschen, aber auch Ängsten seiner Altvorderen - immer vor dem Hintergrund der Beklemmungen der Nazi-Zeit und dem Horror des Krieges. Oft dokumentarisch, dann wieder fiktional beschreibt und verwebt er Entscheidungen und Umstände sehr intelligent und subtil miteinander. "Columbusstraße" nimmt sich Zeit und schafft den schwierigen Spagat zwischen dunkler Historie und intimer Familiengeschichte.
"Heroes": Schwarzer Humor trifft auf Gesellschaftsanalyse
Eine Gruppe von äußerst diversen Figuren stromert durch den Wald. Sie sorgen sich alle um die Menschheit, denn die ist von einer dunklen Macht bedroht. Inio Asanos Manga "Heroes" lässt die ungewöhnlichen Helden eine Reise durchleben, die die Fragen des Lebens im Allgemeinen und die des Zusammenlebens im Besonderen behandeln. Ein Buch, das durch seine Kontraste hervorsticht - gestalterisch durch die Mischung aus Fantasy-, Manga- und Cartoonhaftigkeit, aber auch inhaltlich, wenn schwarzer Humor auf Gesellschaftsanalyse trifft. Ein leicht zu verschlingendes Buch mit Tiefgang. Sehr unterhaltsam, sehr fantasievoll.
"Harter Psücharter": Urkomische Sitcom von Ralf König in Buchformat
Im dritten Teil seiner Mini-Web-Serie um Konrad und Paul beschreibt Ralf König einmal mehr das schwule Leben seiner Figuren mit pikanten Fantasien oder auch Begegnungen - aber nicht nur. Er behandelt auch universelle Themen. Bei ihm geht es um die Angst vorm Älterwerden. Es geht um das Finden der richtigen Begrifflichkeit, wenn es um das Thema queere Lebenswelten geht oder wenn ein Smartphone in ein analoges Leben Einzug hält. "Harter Psücharter" ist ein Aufheller für dunkle Stunden, eine urkomische Sitcom in Buchformat oder einfach nur ein großer Spaß zum Lesen.
"Drei oder vier Bagatellen": Berührend kantiger Antihelden-Comic
In "Drei oder vier Bagatellen" berichtet der österreichische Zeichner Franz Suess von Erwartungen und Verlust und der Sehnsucht nach Geborgenheit, Ehrlichkeit und dem Geliebt-Werden. Da datet zum Beispiel Brigitte voller Hoffnung auf einen romantischen Abend den rustikalen Stevan, um ihn ein paar Stunden und Seiten später hochkant aus ihrer Wohnung zu schmeißen. Die Figuren von Franz Suess sind Antihelden, gescheitert, nie wirklich mit Glück gesegnet - nur in ihren Träumen gefangen. Kantig, kratzig in Schwarzweiß zeichnet er sie - alles wirkt ein wenig trüb. Selbst der Sommer wird bei ihm zu einem einzigen Novembertag. Trotz aller Düsternis schafft es der Zeichner, Empathie für die Figuren entstehen zu lassen. Eindringlich und berührend.
"Private Venus": Mailänder Krimi im Crumb- und Knatterton-Stil
In Paolo Bacilieri Krimi-Adaption von Giorgio Scerbanenco geht es um den Mord an einer jungen Frau in einem Vorort von Mailand. Ein wegen Sterbehilfe verurteilter Arzt soll sich für einen Klienten um dessen alkoholkranken Sohn kümmern und den Grund für dessen Sucht finden - doch der Arzt entdeckt noch mehr. Ganz in Schwarzweiß und mit einer Mischung aus Robert Crumb, Roy Lichtenstein und Nick Knatterton bringt uns Bacilieri ein Stück Italien näher, das seinem Image aus Mafia, Dolce Vita und duftendem Cappuccino gerecht wird und durch die grafisch gehaltenen Bilder einen eigenen Sog entwickelt. "Private Venus" überzeugt durch Detailverliebtheit und unkonventionelle Bildsprache - am besten zu genießen mit einem frischen Espresso.
"Atan von den Kykladen": Zauberhafte Künstler-Geschichte
Atan ist ein schüchterner Junge, der vor 5.000 Jahren auf der griechischen Insel Kea lebt. Er formt lieber Figuren aus Ton, als seiner Familie bei der Haus- und Feldarbeit zu helfen. Auch wenn sein Großvater findet, dass er goldene Hände hat, so muss er doch sein Dorf verlassen und nach Naxos reisen. Aus dem jungen Atan wird später ein bedeutender Bildhauer und Künstler. Judith Vanistendaels "Atan von den Kykladen" gibt Mut, seinen Talenten und Leidenschaften zu folgen - trotz aller gesellschaftlichen Zwänge. Mit ihrem unnachahmlichen Stil, in dem sie die Panels auflöst und den Platz einer Seite mit viel humorvoller Handlung füllt, bekommt die Geschichte - auch durch ihre leichte und lockere Erzählweise - etwas Philosophisches. Eine zauberhafte Geschichte - aber noch zauberhafter erzählt.
"Hoka Hey!": Packender Western-Comic
Die Grillen zirpen, die Bäume rauschen und das hohe Gras wiegt sich im Wind. Ein paar Seiten später allerdings liegen schon die ersten Figuren tot unter der Sonne des Wilden Westens und ein kleiner Dakota-Junge bangt gekidnappt auf einem Pferd um sein Leben. "Hoka Hey!" heißt der Band von Romain Maufront alias Neyef. Hier flirrt die Luft, hier tanzen Lichtreflexe durch die Seiten, als lese man das Buch unter einer großen Buche im Hochsommer. Vor dem historischen Hintergrund der Zwangsumsiedlung und Umerziehung der indigenen Ureinwohner Nordamerikas, werden alle Register eines guten Western gezogen: einsame Nächte am Lagerfeuer, Kopfgeldjäger, alte und offene Rechnungen, Saloon-Schlägereien und natürlich rauchende Colts. "Hoka Hey!" ist nicht nur der Kriegsschrei der Lakota, es ist ein Buch voller Geschichte und Spannung - bis zur letzten Seite.
"Fungirl": Grotesk, aberwitzig und unglaublich sympathisch
Eine junge Frau sucht einen Job - notgedrungen, denn ohne Geld läuft nichts. Sie ist eher faul. Wenn sie Dinge unternimmt, dann nur welche, die ihr Spaß machen: Skateboard fahren, träumen und masturbieren. "Fungirl" heißt dieses Geschöpf der Comic-Evolution - mit einem wirklich kreisrunden Gesicht, zwei Kulleraugen und einer Stirnfalte, die an ein Christuskreuz - nur umgedreht - erinnert. Ihr Leben in der kleinen WG mit Becky, mit der sie schon mal was hatte, und Peter, Beckys Freund, mit dem sie noch nichts hatte, ist geprägt von Selbstliebe-Attacken und Schnorrereien. Zudem scheint sie mit Ungeschicklichkeit gesegnet zu sein. Da geht schon mal beim neuen Arbeitgeber, einem Bestatter, eine Leiche in Flammen auf. Grotesk, aberwitzig und unglaublich sympathisch zeigt uns Elizabeth Pich diese herzensgute Loserin im schnörkellosen bunten Cartoon-Stil. Bunt, frech und ein bisschen subversiv. Die Graphic Novel erschien vor drei Jahren erst in den USA und nun beim Schweizer Verlag Edition Moderne. Was für ein Glück, denn sonst bliebe uns dieses zutiefst menschliche "Fungirl" vorenthalten.
"Genossin Kuckuck": Universum an Poetik und Vielschichtigkeit
Die Graphic Novel handelt vom Erinnern an die DDR-Zeit, von der Suche und dem Finden der Bedeutung des Wortes "Heim" mit all seinen Facetten. Zudem handelt es von Fragen wie: Wer bin ich? Was macht mich zu dem, was ich geworden bin? Das Ganze erzählt Anke Feuchtenberger nicht linear. In den mit Bleistift und Kohle gezeichneten Bildern wird es autobiografisch, poetisch und teilweise surreal - auch wenn eine tiefere Bedeutung dahinter steckt. "Ich habe keinen Anspruch dokumentarisch zu sein", so Anke Feuchtenberger, "überhaupt nicht. Das ist eine völlig erfundene Geschichte, die wahr ist." "Genossin Kuckuck" ist keine gängige Graphic Novel. Es ist ein Universum, dass in seiner Poetik an Wim Wenders Filme erinnert und in seiner Vielschichtigkeit an Bücher von Christa Wolf.
"Der Prophet": Alter Text mit frischen Bildern
Vor 100 Jahren erschien das Buch "Der Prophet" des Dichters und Philosophen Khalil Gibran - nun liegt es als Graphic Novel vor. Mit dem Stift mitphilosophiert hat es die in Frankreich lebende Libanesin Zeina Abirached. Ihr Zeichenstil erinnert teilweise an "Persepolis" von Marjane Satrapi. In Schwarz-Weiß gehalten, wird die Geschichte von Almustafa erzählt, der zwölf Jahre auf die Ankunft eines Schiffes wartet, um dann kurz vor seiner Abfahrt mit den Bewohnern in philosophische Gespräche zu versinken. Alles wirkt gekonnt graphisch: Formen, Figuren, selbst die Texte fließen rhythmisch durch die knapp 370 Seiten. Ein alter Text, der durch seine frischen Bilder viel Ruhe, Entschleunigung und Nachdenkenswertes entfaltet.
"Crossing Borders": Schöner Manga für Einsteiger
Schüchterner Junge mit großem Zeichentalent trifft auf hübsches Mädchen mit über einer Million Instagram-Followern. Was zuerst nach einer ziemlich flachen, überzogenen und auch extrem langweiligen Story klingt, hat mehr zu bieten. Entwickelt und gezeichnet hat sie der Münchner Dominik Jell. Sein Beruf: Tätowierer und Mangaka. Seine Erzählweise: "So realistisch wie möglich. Das war für mich der Anspruch: Nichts passiert, was nicht auch so im echten Leben passieren könnte." Die beiden Protagonisten tragen jeweils einen ordentlichen Rucksack an bereits unschönen Erfahrungen, die in Verletzungen und Rückzug geendet haben. Zeichnerisch ist dieser Manga sehr europäisch, weg vom Kulleraugen-Girl und hechelndem Pennäler. Details und organische Dialoge machen "Crossing Borders" für noch nicht infizierte Manga-Fans zu einem Einstieg oder Highlight.
"Quentin Tarantino": Comic-Biografie über den Meisterregisseur
Quentin Tarantino ist ein Filmbesessener und man fragt sich, warum hat es nicht schon längst eine Graphic Novel über den Filmemacher gegeben. Geschrieben und gezeichnet hat ihn Amazing Ameziane, der schon Orwells "1984" voluminös als Comic umgesetzt hat. Er erzählt die Biografie des Filmemachers chronologisch. Da wird seine Kindheit und Jugend im "Calvin und Hobbes"-Stil erzählt, da werden Unmengen an Szenen aus seinen Filmen gezeigt und besprochen, da wechseln die Zeichenstile so oft wie die Filter vor den Kameraobjektiven. Farben sind oft so knallig eingesetzt wie die Sprache in seinen Filmen - Kontraste satt. Da passt der Inhalt perfekt zur Form. Thematisch wird nichts ausgelassen: von der verlustreichen Kindheit bis zum toxischen Weinstein-Verhältnis. Für Film- und Tarantino-Fans gibt es viele Ahhs und Ohhs - für alle anderen ist das Buch eine muntere Comic-Biografie.
"The Future is …": 14 verschiedenste Ideen von der Zukunft
Wie wird die Welt in 100 Jahren aussehen? Diese Frage haben sich 14 Illustratorinnen gestellt. Auf jeweils acht Seiten versuchen sie eine Welt zu zeigen, die KI geprägt, umweltmäßig ausgelaugt und hochtechnologisch ist - oder eben ganz anders. 14 verschiedene Stile, 14 verschiedene Ideen von der Zukunft - was sie beim Lesen gemeinsam haben, ist der Wunsch, eigentlich mehr von diesen Welten zu erfahren. Poetisch, philosophisch oder einfach nur abgedreht - "The Future is …" ist eine Graphic Novel mit Kurzgeschichten und viel Raum zum Träumen und Nachdenken.
"Die Chroniken von Sillage": Spaßiges Fantasy-Abenteuer
Im wahrsten Sinne fantastisch wird es auch in den "Chroniken von Sillage". Dieses Fantasy-Abenteuer beruht auf einer Geschichte der beiden Zeichner Philippe Buchet und Jean-David Morvan. Sie lassen die junge Nävis durch das All cruisen, die von einem riesigen Weltraum-Konvoi aufgenommen wird - als einziger Mensch unter diversen Spezies. Unterschiedliche Zeichner erzählen ihre Geschichte in Episoden, Stilwechsel sind auch hier Standard. Das macht das Lesen Anfangs etwas schwieriger, da bestimmte Figuren nicht sofort erkennbar sind. Am Ende allerdings zeigt sich ein großer Spaß, denn das Universum von Sillage kann locker mit dem von Star Wars, Narnia oder Star Trek mithalten.
"Wie ein Hund": Ungewohnt raue und temporeiche Textcollage
Kantig, kontrastreich und irgendwie geheimnisvoll - so schaut Franz Kafka nicht nur auf einem seiner berühmtesten Porträts aus dem Jahr 1923, so zeichnet auch der Kroate Danijel Žeželj Bilder zu den Texten des Prager Schriftstellers. Es ist eine Textcollage aus Roman-, Erzählungs- und Tagebuchausschnitten. Das Fundament bildet die Kurzgeschichte "Ein Hungerkünstler". Der Stil ist ungewohnt rau, kompromisslos. Seine schwarzweißen Zeichnungen wirken wie moderne Grafiken aus einer Galerie in Gotham City. Sie ziehen einen mit Tempo durch die dann doch traumatische Geschichte, die mit Gleichnissen, wie bei Kafka üblich, durchzogen ist. Wer Kafka in der Schule nicht verstanden hat, der bekommt mit "Wie ein Hund" eine zweite Chance.
"Komplett Kafka": Prosa trifft auf Comic
"Ich leg' mich auf die Couch und denke nach." Was ein gutes Zitat von Kafka selbst sein könnte, stammt aber vom österreichischen Comic-Künstler Nicolas Mahler, der so sein Zeichen-Ritual einmal beschrieben hat. Mahler ist für seine humorvollen und Spaß bringenden Cartoons und Comicstrips in der "Zeit" oder der "NZZ" bekannt - nun also Kafka. Herausgekommen ist ein kleines Büchlein - allerdings weit entfernt von einer Graphic Novel oder einem Comic. Darin die typisch reduziert-skizzenhaften Cartoon-Bilder von Mahler, die zwischen - mal kurzen, mal längeren - Textblöcken eingemauert sind. Prosa trifft auf Comic. Was gestalterisch zu kurz kommt, ist inhaltlich sehr unterhaltsam. In der Summe ist "Komplett Kafka" ein humorvolles "Biografiechen" mit Schmunzeleinheiten, passend für eine Bahnfahrt zwischen Kiel und Hannover.
"Kafka": Neuauflage eines Klassikers
Bereits 1995 erschien "Kafka für Anfänger" - eine Zusammenarbeit des Schriftstellers David Z. Mairowitz und des amerikanischen Comic-Pioniers Robert Crumb. Nun gibt es eine Neuauflage im Taschenbuchformat unter dem abgekürzten Titel "Kafka". 175 Seiten lang arbeiten Mairowitz und Crumb das Leben des überwiegend unglücklichen und depressiven Autors auf. Robert Crumb findet Bilder, die oft das Leiden und den Schmerz des jungen Franz sichtbar und teilweise auch spürbar machen. Es sind detailreiche Bilder, die oft keine Weißräume haben und so schwerer wirken als übliche Comicstrips. Hier verschmelzen Textblöcke mit den Zeichnungen zu einer organischen Einheit. Ein Klassiker, der auch noch knapp 30 Jahre nach Erscheinen nichts an Kraft und Bedeutung verloren hat und so das Verständnis für Kafka heute noch wach hält.
"Kannas": Eindringliche historische Dokumentation
1944, nördlich von Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg: Nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 zwingt die Rote Armee die finnischen Bewohner der dortigen Landenge zur Flucht - mit allen Mitteln. Die Finnen nennen diesen Landstrich "Kannas". In der gleichnamigen Graphic Novel von Hanneriina Moisseinen erleben wir diese Zeit noch einmal nach. In matten und beklemmenden Bleistiftzeichnungen erzählt sie von der Hirtin Maria und dem Deserteur Auvo, der nur durch Glück einen Angriff überlebt hat und fortan traumatisch durch die Gegend kurvt. Das Buch wird durch historische Fotostrecken zu einer erzählerischen Dokumentation der eindringlichsten Art. Eine Geschichte nicht zum Wohlfühlen, aber um unbekannte historische Abläufe zu verstehen.
"Das Schimmern der See": Skizzenbuch eines Aktivisten im Mittelmeer
Drei Tage ist Adrian Pourviseh mit Seenotrettern auf dem Mittelmeer unterwegs. Der Aktivist ist entsetzt, was ihm dort begegnet. Verzweifelte und hilflose Flüchtlinge treffen auf gut organisierte Helfer, Not trifft auf Empathie und im Hintergrund kocht die Politik ihr eigenes Süppchen. Er dokumentiert das Erlebte in seinem Skizzenbuch. Zeichnerisch erinnert "Das Schimmern der See" oft an eine Leistungskursarbeit aus der Schule, doch man spürt auch den inneren Drang Pourvisehs, das Stille und nie Gehörte öffentlich zu machen. Erschreckend und informativ zugleich.
"Games": Berauschende Bilder von fünf Geflüchteten aus Afghanistan
Patrick Oberholzer belegt mit "Games" eine eigene Kategorie in diesem Genre. Fünf Menschen aus Afghanistan erzählen ihre persönliche Geschichte. Oberholtzer spiegelt diese wider, allerdings in berauschenden Bildern voller Präzision, Farbigkeit, Aufbau und Modernität. So gerät eine Flucht über die Berge bei ihm zu einer comic-haften Marvel-Action-Szene, ohne dabei den nötigen Respekt für die Flüchtenden zu verletzen. Der Illustrator aus Winterthur verwebt die Geschichten der fünf Protagonisten intelligent mit Fakten rund um Afghanistan, Schleppersysteme, Fluchtrouten, inoffizielle Finanzsysteme und europäische Asylpolitik. "Games - Auf den Spuren der Flüchtenden aus Afghanistan" sollte zu einem Standardwerk für Schulen und Politiker werden. Eindringlicher kann man die Hintergründe, Verknüpfungen und Beweggründe nicht vermitteln und verstehen.