Nathalie Klüver: "Kindergrundsicherung ist längst überfällig"
Das Motto des diesjährigen Weltkindertages heißt "Jedes Kind braucht eine Zukunft!". Autorin Nathalie Klüver stellt konkrete Forderungen auf, wie Deutschland ein kinderfreundlicheres Land werden könnte. Ein Gespräch.
"Kinderrechte sind der Schlüssel zu einer Gesellschaft, die anerkennt, dass die Zukunft nur gut wird, wenn es auch den Kindern gut geht", sagt die Autorin Nathalie Klüver in ihrem Buch "Deutschland, ein kinderfeindliches Land? Worunter Familien leiden und was sich ändern muss".
"Wir brauchen ein Familienwahlrecht"
Darin spricht sie sich unter anderem für eine schnelle Verankerung der Kinderrechte in der Verfassung aus. "Optimal und gerecht wäre ein Familienwahlrecht, bei dem jedem Menschen eine Stimme zugesprochen wird. Dieser Schritt würde Politikerinnen und Politiker zwingen, langfristiger zu entscheiden und zu planen." Im Gespräch mit der NDR Kultur Redakteurin Annika Feldmann spricht sie über Kinderfeindlichkeit, Wahlrecht und die Kindergrundsicherung.
Vor ein paar Wochen war ich mit meiner fünfjährigen Tochter bei Ikea. Sie war total begeistert, dass es Waschbecken auf Kinderhöhe gab. Das war das erste Mal, dass ich mich das Wort "kinderfreundlich" habe sagen hören. Wieso tut sich Deutschland so schwer, Kinder ernst zu nehmen?
Nathalie Klüver: Dieses Gefühl zu stören, oder irgendwo mit Kindern nicht willkommen zu sein, kennen fast alle Eltern, das hat man überall schon einmal im öffentlichen Raum erlebt. Im Restaurant, in der Bahn. Das ist tatsächlich eine Mentalitätssache. Man hat sich in all den Jahren, wo sich Familien zurückgezogen haben, vergessen, was normales kindliches Verhalten ist. Dadurch fühlen sich die Leute von Kindern gestört. Als Konsequenz ziehen wir Eltern uns immer weiter zurück.
Im Titel Ihres Buches ist sogar die Rede von "Kinderfeindlichkeit". Woran machen Sie die fest?
Klüver: Für mein Buch habe ich nun recherchiert, ob es nun eine Mentalitätsfrage ist, oder ob es viel, viel tiefer sitzt. Und ich bin auf 240 Seiten zum Schluss gekommen, dass es sich um handfeste rechtliche, strukturelle, politische und auch finanzielle Benachteiligung handelt für Familien.
Was muss sich ändern, damit Deutschland kinder- und familienfreundlicher wird?
Klüver: Damit sich in diesem Land wirklich etwas ändern, brauchen wir in Deutschland wirklich ein Familienwahlrecht. Wahlrecht ab 16 Jahren als ersten Schritt. Und dann als Regel: ein Mensch, eine Stimme. Um diese umgekehrte Bevölkerungspyramide bei den Wahlen auszuheben. Denn jetzt sind 20 Prozent der Wählenden über 70 Jahre alt. Und 13,75 Millionen Kinder und Jugendliche haben einfach keine Stimme.
Und da ist es klar, dass sich die Politiker sich danach entscheiden, wer ihnen am meisten Stimmen gibt. Denn sie wollen wiedergewählt werden. So gibt es Lobbygruppen. Und Kinder und Familien haben einfach keine Lobby, das muss man so sagen.
Wir brauchen im Grundgesetz dringend Kinderrechte, denn dann kann die Politik nicht mehr über den Kopf des Kindes hinweg entscheiden. Wir müssen anfangen, den öffentlichen Raum Kinder sicher zu machen, davon würden wir alle profitieren. Von mehr Sitzgelegenheiten, einem sichereren Straßenverkehr, mehr Fußwegen. Die brauchen wir schon allein wegen der Verkehrswende.
Wir brauchen dringend eine Partizipation von Kindern. Kinder können viel, wir müssen ihnen etwas zutrauen, ihnen auf Augenhöhe begegnen, sie nicht immer von oben herab behandeln.
Sie schreiben im Buch, ein wesentliches Problem in Deutschland sei, dass Kinder zu haben hierzulande als eine Art Privatvergnügen gesehen wird. Was genau meinen Sie damit und warum ist das problematisch?
Klüver: Viele Eltern kennen auch diesen Satz. Wenn sie mal wagen, sich zu beschweren, hören sie immer wieder: "Du wolltest doch Kinder, du hast es dir doch selbst ausgesucht." Genau das ist das Problem. Wir habe es uns selbst ausgesucht und müssen auch zusehen, wie wir damit klarkommen. Kinder sollen Privatsache sein in Deutschland.
Uns Eltern finanziell sehr viel aufgelastet und es wird uns überlassen, wie wir das mit den Schulaufgaben machen, mit den Materialien. In anderen Ländern wird das ein bisschen anders verstanden, da werden Kinder als Investition in die Zukunft gesehen. Das sind sie auch. Das allein zeigt, dass sich in dieser Einstellungssache etwas ändern muss.
Was halten Sie von den aktuellen Plänen zur Kindergrundsicherung und den Diskussionen, die in den vergangenen Wochen darum geführt wurden?
Klüver: Die Kindergrundsicherung ist längst überfällig. Denn die ganzen verschiedenen Leistungen, die man für Kinder erhalten kann, sind so bürokratisch und unheimlich umständlich zu beantragen, dass viele das gar nicht erst machen. Oder sich in diesem Dschungel von Antragsmöglichkeiten nicht erst zurechtfinden.
Familien brauchen dringend finanzielle Entlastung. Das kann zum Beispiel im Bereich der Mehrwertsteuer sein, dass auch Babybrei mit sieben Prozent besteuert ist, und nicht nur Tierfutter. Das ist sowieso ein Skandal. Und dass sich unser Finanzminister so dagegen sperrt und das nicht anerkennt, finde ich sehr bedenklich. Aber er hat auch gesagt, er will in der Elternzeit imkern gehen und eine Doktorarbeit schreiben. Vielleicht sollte er einfach endlich Elternzeit machen, um zu erkennen, was wir Eltern eigentlich jeden Tag leisten.