"Fahles Feuer": Verwickelte Geschichte zweier Männer
In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Vladimir Nabokov: "Fahles Feuer".
Von Hanjo Kesting
Vladimir Nabokov war ein Schriftsteller ausgereifter Meisterschaft, aus der Tradition der großen Russen von Gogol bis Tschechow, einzigartig in seiner Verbindung von Intimität und Enthüllung, von Diskretion und Offenheit. In Fragen der Kunst vermied er Theorien und abstrakte Begriffe. In einem Text, der die Überschrift trägt "An alle künftigen Leser und Literaturkritiker", heißt es: "Merken Sie sich, dass Mittelmäßigkeit auf "Ideen" gedeiht. Hüten Sie sich vor der modischen Botschaft. Fragen Sie sich, ob das Symbol, das Sie entdeckt haben, nicht ihr eigener Fußabdruck ist. Verlassen Sie sich darauf, wenn die Härchen auf Ihrem Rücken sich plötzlich aufrichten."
Kunst war für Nabokov gegenständlich, komplex, vieldeutig, trügerisch, "eine Fata Morgana im Spiegel", wie er gesagt hat. Von seinen zahlreichen bedeutenden Büchern schätze ich den späten Roman "Pale Fire" ("Fahles Feuer") von 1962 besonders, weil Nabokov darin das Muster der wiederholten Spiegelung in einem intrikaten Verwirrspiel auf die Spitze getrieben hat. Der Roman ist die verwickelte Geschichte zweier Männer: des Dichters John Shade, der als Professor für englische Literatur an einer amerikanischen Universität tätig ist. Nach seinem gewaltsamen Tod bei einem Attentat, hinterlässt er ein tausend Zeilen langes, nicht ganz vollendetes Gedicht, das den Titel "Pale Fire" trägt – sein Hauptthema ist der Tod. Die zweite Hauptfigur ist Shades Kollege, Nachbar und Freund Charles Kinbote, der als Herausgeber des rätselhaften Gedichtes fungiert und in einem Motel im Westen der USA einen zweihundert Seiten langen Kommentar dazu verfasst.
Der Roman ist voller rätselhafter Verweise, Umkehrungen und Anspielungen, die nach Entschlüsselung verlangen, ohne dass sich die Rätsel vollständig lösen lassen. Schon den Titel des Poems "Pale Fire", den Shade einem gewissen "Will" zu verdanken vorgibt, weiß Kinbote nicht zu erklären. Ist damit Shakespeare gemeint? Deutet der Name "Shade", also Schatten, auf die heimliche Identität zwischen dem Dichter und seinem Herausgeber hin? Statt das Gedicht zu kommentieren, sucht Kinbote darin vor allem nach Stichworten, um seine eigene phantastische Lebensgeschichte vorzutragen. Diese Verrätselung ist aber nicht Selbstzweck, keine ästhetische Spielerei, kein höheres Literaturquiz, sie ist das eigentliche Thema des Romans: Spiegelung der Welt- und Daseinsrätsel, die von uns verlangen, im Chaos der Erscheinungen ein "Sinngewebe" zu entdecken oder, wie Shade es in seinem Gedicht ausdrückt, "Ornamente aus Zufällen und Möglichkeiten".
Aber welcher Sinn lässt sich dem Tod beilegen? Die Hamlet-Frage nach dem "unentdeckten Land, von des Bezirk kein Wandrer wiederkehrt", bleibt ohne Antwort: "Wie unsinnig, sich damit abzuplagen, / Ein allgemeines Los in eigne Sprach' zu übertragen! … Leben ist eine Botschaft, ins Dunkel gekritzelt." So heißt es in dem Gedicht. Und die Kunst? Sie macht es nicht anders als Leben und Wirklichkeit, sie kritzelt ihre Botschaften zwar nicht ins Dunkel, doch müssen sie trotzdem mühsam entziffert werden, ohne ihre Bedeutung völlig preiszugeben. Charles Kinbote, Shade's Herausgeber, verspürt ein berauschendes Gefühl, als er das Manuskript des bewunderten Dichters in einem Umschlag unter dem Arm hält und an das Glück der Lektüre denkt, das ihn erwartet: "Feierlich wog ich in meiner Hand, was ich unter der linken Achsel trug, und für einen Augenblick fand ich mich um ein unbeschreibliches Erstaunen bereichert, als wäre mir die Botschaft kundgeworden, dass Leuchtkäfer im Namen gestrandeter Seelen entzifferbare Signale von sich geben oder dass eine Fledermaus eine lesbare Mär der Marter in den gebläuten und gebrannten Himmel schriebe." In diese rätselhaften Worte hat Nabokov das Fragment eines Selbstporträts hineingeschrieben. Auch er ist ein Magier, und seine Romane sind im verführerischen Fluss des Epischen auf abgefeimte Weise artistisch, Erzähllabyrinthe mit doppeltem Boden. Ihre Lektüre versetzt den Leser in jene Ekstasen der Zeitlosigkeit, die der Autor selbst bei seinen Schmetterlingsjagden empfunden haben mag.