Thomas Steinfeld: "Goethe war ein ruheloser Forscher"
Johann Wolfgang von Goethe ist nicht nur ein deutscher Dichter, er gilt als der deutsche Dichter: Vor 275 Jahren wurde er in Frankfurt am Main geboren. Ein Interview mit dem Goethe-Biografen Thomas Steinfeld.
Goethe, als junger Dichter noch mit "Sturm und Drang" ausgestattet, gilt als wichtigster Vertreter der Weimarer Klassik. Mit seinem Briefroman "Die Leiden des jungen Werther" über Innenansichten eines Mannes, fein zergliedert, schafft Goethe, damals 25 Jahre alt, den literarischen Durchbruch. Seine schriftstellerische Produktion läuft auf Hochtouren mit Werken, die in die Literaturgeschichte eingehen: "Iphigenie auf Tauris", "Wilhelm Meisters Lehrjahre", "Faust", unzählige Gedichte und schließlich seine "Italienische Reise". Der Journalist und Autor Thomas Steinfeld hat sich in einer Biografie mit Johann Wolfgang von Goethe beschäftigt, zeigt ihn in den vertrauten Rollen als Dichter, Theatermacher, Reisenden, aber auch in den weniger bekannten als Politiker, Kriegsbeobachter und Naturforscher.
Der Goethe, den ich durch Ihr Buch kennengelernt habe, macht den starken Eindruck eines Menschen, der ganz viel aufsaugt, ganz viel weiß, sehr schnell und leicht lernt.
Thomas Steinfeld: Goethe will die Sachen begreifen, begreift sie auch, der begreift sie manchmal auf eine Art und Weise, bei der wir Schwierigkeiten haben, dahinterzukommen, warum das eigentlich so ist. Das ist ein Forscher, der absolut ruhelos ist. Das liegt natürlich daran, dass die Sachen immer weiter in ihm bohren, und er versucht sie wieder auf ein neues Gedankenniveau zu treiben.
Ein einfaches Beispiel: Wir nehmen den "Werther". Der "Werther", so habe ich und viele Leute ihn in der Schule kennengelernt, ist ein tragischer Liebesroman. Die ganze Geschichte geht sehr traurig aus. Der Mann ist tot und die Frau unglücklich. Am Ende wird er außerhalb der Friedhofsmauern begraben. Aber im "Werther" steckt eigentlich auch ein anderes Buch und dieses andere Buch handelt zwar auch von Liebe, aber es ist eine Kritik der Liebe. Um es an einem sehr einfachen Beispiel zu zeigen: Werther ist völlig außerstande, Dinge zu tun, für die es kein Vorbild gibt, kein literarisches Vorbild. Er glaubt, aus ihm spreche die reine Seele. Tatsächlich hat er aber für alles, was er tut, ein literarisches Vorbild: den Ossian, Homer, den Klopstock, also die Frühlingsfeier-Szene, in der die beiden einander ihre Liebe gestehen oder auch nicht - bis zum Ende. Werther kann nicht einmal ohne literarisches Vorbild sterben. Da liegt die "Emilia Galotti" aufgeschlagen auf dem Schreibtisch. Das also das Original nur eine Kopie ist, dass das größte aller Gefühle bloß aus Nachahmung besteht, das ist ein ziemlich harter Gedanke. Dazu muss man nicht analytisch oder abstrakt denken, aber man muss ein Gefühl dafür haben, hier stimmt etwas nicht, und die Sache hat eine ganz andere Seite.
Wo wir über den "Werther" sprechen, hat man auch den Eindruck, dass es immer auf eigenes Erleben zurückgeht, was Goethe schreibt.
Steinfeld: Aber immer nur halb.
Aber diese Wurzeln arbeiten Sie sozusagen auch in dem Buch sehr klar heraus.
Steinfeld: Ja, Goethe erfindet eigentlich sehr wenig. Es gibt einen einzigen richtigen Roman, der eine Exposition hat, eine Durchführung und ein richtiges Ende, das sind die "Wahlverwandtschaften". Ansonsten arbeitet er mit dem Material, das er aus seinem eigenen Leben kennt.
Nun haben Sie über die Arbeit, über das Leben und Wirken von Goethe, auch den Menschen ein bisschen mehr verstanden, nehme ich an. Oder fehlen da noch Einzelheiten für Sie? Haben Sie das Gefühl, Sie sind dieser Persönlichkeit Goethe, wirklich nahegekommen?
Steinfeld: Es gibt Augenblicke, vor allem beim späten Goethe, wenn er anfängt von seiner Einsamkeit zu reden und man ihm das nicht richtig glaubt, weil er immer in Gesellschaft war. Da hatte ich schon das Gefühl, jetzt weiß ich ungefähr, wie er gewesen sein muss. Aber es gibt eine fundamentale Unklarheit. Ich glaube, die gibt es überall. Schiller zum Beispiel ist als Mensch wahrscheinlich sehr viel überschaubarer und einprägsamer gewesen als Goethe. Bei Goethe gibt es immer Schwierigkeiten. Man kann das gut ablesen, gut erkennen an den gemalten Porträts, die es von Goethe gibt. Es gibt ungefähr 20 und auf allen sieht er anders aus. Auf jedem Bild ein anderer Mensch.
Er hat etwas von dieser absoluten Ungreifbarkeit. Und ich glaube, es gibt Dinge, die sehr schwer zu greifen sind und wenn sie zu greifen sind, dann tut es ziemlich weh. Damit meine ich vor allem das Ende von Faust II. So wie er da über die Zeit nachdenkt und über die Vernichtung von allem und jedem, die Zeit darstellt, das hat eine Radikalität, die weit über das hinausgeht, was Nietzsche in seinem ganzen Leben an Nihilismus zusammenbrachte.
Das Gespräch führte Martina Kothe.