Stendhal: "Rot und Schwarz"
In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um "Rot und Schwarz" von Stendhal.
Von Hanjo Kesting
Als Stendhal 1829 daran ging, "Rot und Schwarz" zu schreiben, war er 46 Jahre alt und nicht bei bester Gesundheit - im Lauf eines Jahres machte er sechs Testamente. Viele Stürme, Leidenschaften, Enttäuschungen lagen hinter ihm: die Jahre der Revolution, die Schreckensherrschaft, das Konsulat Bonapartes und das Kaiserreich Napoleons, die Siegeszüge der Großen Armee, das verbrannte Moskau, Waterloo und der Wiener Kongress, die Rückkehr der Bourbonen auf den französischen Thron. Dann, in einer schlaflosen Oktobernacht, sieht er den inneren Film eines großen Romans vor sich ablaufen, dem er den Arbeitstitel "Julien" gibt und dessen Entwurf er in wenigen Tagen niederschreibt. Der endgültige Titel "Rot und Schwarz" ist oft gedeutet worden, ohne seine Bedeutung völlig preiszugeben.
Ein ungewöhnlicher Held
Der Roman heißt im Untertitel "Chronik von 1830", und er erschien in ebendiesem Jahr. Man kann ihn als aktuellen Zeitroman lesen, auch wenn das Buch in dieser Charakterisierung nicht aufgeht. Es ist eine Zeit der politischen Restauration, in der Thron und Altar wieder die bestimmenden Mächte sind und kein freier und hochherziger Gedanke sich regen kann. Erzählt wird die Geschichte des Handwerkersohns Julien Sorel, der von Ehrgeiz erfüllt ist und alles daran setzt, eine große Karriere zu machen. Mit ihm hat Stendhal einen ungewöhnlichen Helden in die Literatur eingeführt, einen Emporkömmling und Karrieristen, der sich verstellt und die Maske der Heuchelei anlegt, ohne die Sympathie des Lesers völlig einzubüßen. Er ist egoistisch, voller fehlgeleiteter Wünsche und klischeehafter Vorstellungen, zugleich in seinen Gefühlen fein differenziert, reich an Willenskraft und Energie, ungewöhnlich mutig.
In seiner Heimatstadt Verrières, wo er eine Stelle als Hauslehrer antritt, gewinnt er die Gunst von Madame de Rênal, die seine dreiste Ankündigung, nachts um zwei Uhr in ihr Schlafzimmer zu kommen, mit Empörung zurückweist. Julien, in der Besorgnis, feige zu erscheinen, nimmt allen Mut zusammen und wirft sich ihr zu Füßen - so nehmen die Dinge ihren Lauf, und sie wird seine Geliebte. Später, als Sekretär des einflussreichen Marquis de La Mole in Paris, avanciert Julien zum Liebhaber von dessen Tochter Mathilde. Eine große Karriere scheint vor ihm zu liegen, aber dann wird er durch ein Schreiben von Madame de Rênal, das ein Priester ihr abgepresst hat, denunziert, woraufhin er sie töten versucht. Das Attentat entspringt einem jähen Racheimpuls, der Julien umso heftiger überkommt, weil er Madame de Rênal insgeheim noch immer liebt. Das mag nicht gerade logisch sein, aber nicht die Logik eines Charakters ist ausschlaggebend, sondern seine Stimmigkeit. Überhaupt ist Stendhal mehr an Charakteren als am Milieu interessiert, obwohl er nicht versäumt zu zeigen, wie sich das Milieu in den Charakteren vermittelt. Das gilt besonders für Julien Sorel, der in keiner Milieutheorie gänzlich aufgeht. Gerade deswegen verdient sein vielschichtiger, widersprüchlicher Charakter unser bleibendes Interesse.
Ein Roman voller Lebenswirklichkeit
"Rot und Schwarz" war ein epochales Ereignis in der Geschichte des Romans. Es ist ein Roman ganz neuer Art, weil er, formelhaft gesagt, mehr Lebenswirklichkeit enthält als alle früher geschriebenen Bücher, ja, von dieser Lebenswirklichkeit geradezu durchtränkt ist. Sonderbar bei alledem, ja geradezu wunderbar ist, dass man diese detailgesättigte Lebenswirklichkeit nicht als langweilig empfindet. Der Roman wirkt vielmehr auch heute noch außerordentlich lebendig, einfallsreich, sprunghaft, sogar launenhaft. Stendhal versucht erst gar nicht, wie später die Naturalisten, die Wirklichkeit durch möglichst genaue Beschreibung nachzuahmen. Er geht, wie alle großen Romanciers, von der Wirklichkeit aus, um sie neu zu erschaffen, fast könnte man sagen: neu zu erfinden. Erst dadurch gewinnt die Wirklichkeit diese erstaunliche Transparenz. Mit welch hoher Bewusstheit er dabei zu Werk ging, zeigt das Motto, das er dem Roman voranstellte: "La vérité, l’âpre vérité" ("Die Wahrheit, die bittere Wahrheit"). An anderer Stelle heißt es: "Nur im Roman gibt es noch Wahrheit. Jeden Tag sehe ich deutlicher, dass dies überall sonst eine Anmaßung ist."