Späte Neugier: Der Norden entdeckt Annie Ernaux
In Deutschland wurde erst vor einigen Jahren ein größeres Publikum auf Annie Ernaux aufmerksam. Jetzt haben zwei Veranstaltungen zu der Autorin in Hamburg für volle Säle gesorgt. Ab Montag sind zwei ihrer Erzählungen in "Am Morgen vorgelesen" auf NDR Kultur zu hören.
Die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux sorgte dieser Tage gleich zwei Mal für ausgebuchte Veranstaltungen in Hamburg: am Donnerstag im Literaturhaus und einen Tag später im Malersaal, der Studiobühne des Deutschen Schauspielhauses. Das Interesse war so groß, dass im Literaturhaus noch über 100 Streamingtickets in den Verkauf gingen.
Annie Ernaux: Irritationen über politische Äußerungen
Das ist umso bemerkenswerter, als in vielen Theatern, Clubs und Konzerthäusern derzeit ganze Reihen oft leer bleiben. Coronabedingt entwöhnt, findet das Publikum nur zögernd zur Kultur zurück. Zu Annie Ernaux aber kam es - trotz des ungemütlichen Wetters und obwohl die Autorin weder am Donnerstag noch am Freitag anwesend war. Das sonst bei Lesungen so beliebte Live-Erlebnis ("Wie ist sie denn so?") mit anschließender Signierstunde fiel also weg. Es ging ausschließlich um die Texte Ernauxs, um ihr Leben und ihre literarischen Strategien. Von ihren politischen Äußerungen und Einlassungen, mit denen sie vor allem in Deutschland für Irritationen gesorgt hat, war erstaunlicherweise nur am Rande die Rede.
Annie Ernaux hat mehrfach Aufrufe der transnationalen BDS-Bewegung unterzeichnet ("Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen"), die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will, um die Gleichberechtigung der Palästinenser zu erzwingen. Eine Zusammenarbeit mit dem "Apartheidsstaat Israel" sei abzulehnen. Der Deutsche Bundestag hat die BDS-Bewegung als antisemitisch eingestuft.
Engagement für die BDS-Bewegung
Annie Ernaux hat sich dazu nicht weiter geäußert, auch nicht in ihrer Nobelpreisrede im Dezember 2022, wie viele gehofft hatten. Aber ist sie deshalb eine Antisemitin, weil sie sich nicht vom BDS distanziert?
Nein. So die resolute Antwort der Literaturkritikerin und Feuilletonchefin der ZEIT, Iris Radisch. Rainer Moritz, Chef des Hamburger Literaturhauses, hatte sie eingeladen, um mit ihr über die französische Schriftstellerin zu sprechen. Klein reden oder gar abtun dürfe man das Engagement Ernauxs für den BDS aber auch nicht, betonte Radisch und erinnerte daran, dass diese in der Vergangenheit immer Partei für die Unterdrückten und Benachteiligten ergriffen habe. Mit diesem Schatten auf dem Bild Annie Ernauxs, mit dieser Trübung, müssen ihre Leserinnen und Leser leben, wenn sie nicht deren Texte boykottieren wollen.
Am Donnerstag kam das Thema wenigsten kurz zur Sprache. Am Freitag im Deutschen Schauspielhaus blieb es gänzlich ausgespart, was vermutlich nicht geplant war, sondern den unstrukturierten Einlassungen des Dramaturgen Ralf Fiedler anzulasten ist. Er und seine Assistentin Finnja Denkewitz hatten die Essener Kulturwissenschaftlerin Hanna Engelmeier eingeladen, aber gaben der ausgewiesenen Ernaux-Kennerin leider zu wenig Gelegenheit, sich in die Diskussion einzubringen. Und von sich aus sprach die Wissenschaftlerin das delikate Thema auch nicht an. Das Publikum nahm es hin, schien nichts zu vermissen.
Julia Nachtmann liest Annie Ernaux im Literaturhaus
Im Saal herrschte konzentrierte Aufmerksamkeit, auch im Literaturhaus, wo die Schauspielerin Julia Nachtmann aus Texten von Ernaux las. Im Malersaal trugen Eva Maria Nikolaus, Sasha Rau und Josefine Israel Ausschnitte aus Büchern und der Nobelpreisrede vor: sachlich, ruhig, unaufgeregt, nachdenklich, so wie es dem Stil der Texte entspricht. Die Besetzung mit drei Schauspielerinnen betonte die Vielschichtigkeit und den Perspektivwechsel.
Annie Ernaux umkreist in all ihren Büchern beschreibend und reflektierend ihr eigenes Leben. Sie werden deshalb gern als autofiktional bezeichnet. Besser und genauer fasst es der Begriff der Autosoziobiografie. Denn Ernaux erzählt mit ihrer Geschichte auch vom Aufstieg aus dem Milieu der kleinen Leute zur Studentin, Lehrerin und schließlich zur Schriftstellerin und beleuchtet jeweils die gesellschaftlichen Verhältnisse.
Annie Ernaux gibt Frauen der Unterschicht eine Stimme
"J'écrirai pour venger ma race", ich werde schreiben, um mein Volk, mein Geschlecht zu rächen, notiert sie mit 22 Jahren in ihr Tagebuch. Das ist ihr literarisches Programm. Sie gibt den Frauen der Unterschicht eine Stimme. Ernaux macht die gesellschaftliche Zerrissenheit zum Thema, erzählt von Demütigungen, heimlichem Begehren und der Scham, nicht dazuzugehören.
Wer war das Mädchen, das mit 18 Jahren Betreuerin in einer Ferienkolonie war und dort zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen hat, fragt das erwachsene Ich in dem Buch "Erinnerung eines Mädchens". Was die 18-Jährige damals als ihre erste Liebesnacht erlebt hat, stellt sich in der Erinnerung der Schriftstellerin als Vergewaltigung dar. "Ich gehe von meiner Erfahrung als Frau aus, von meiner Erinnerung wie der Gegenwart, die unentwegt Bilder und Worte der anderen hervorbringt", wird sie 2022 in ihrer Nobelpreisrede sagen.
Super-8-Filme zeigen private Familienaufnahmen
In Ergänzung zur Lesung und Diskussion zeigte das Schauspielhaus noch einen Film, den Ernaux zusammen mit dem jüngeren ihrer beiden Söhne aus privaten Super-8-Aufnahmen von ihrem Familienleben in den 70er-Jahren hergestellt hat. Filmmaterial wie es viele Familien besitzen: von Weihnachtsfeiern unterm Tannenbaum, Urlaubsreisen und Geburtstagsfesten. Ohne die Kommentare der Annie Ernaux von heute wären das bloße Banalitäten. Man sieht zwei nette Kinder, Ernaux als junge Frau, die sehr bürgerlich-brav aussieht, und nur selten den Mann, weil er, ganz traditionell, die teure Kamera bedient.
Mit den Kommentaren gewinnt der Film an Substanz und ähnelt der Arbeitsweise, die sie auch an ihre literarischen Texte anlegt. Anhand der flimmernden Erinnerungsbilder reflektiert sie die Vergangenheit und blickt hinter die Kulissen, deutet ihr verhaltenes Lächeln als Zeichen ihrer Unzufriedenheit, erzählt vom heimlichen Schreiben und dem Gefühl, Zuschauerin des eigenen Lebens zu sein.
Reisen ins sozialistische Chile und ins maoistische Albanien
Neben den Familienurlauben zeigt der Film auch Ausschnitte aus Reisen ins sozialistische Chile von Salvatore Allende und später ins maoistische Albanien. Ein linkes Ehepaar, das sich mit der Zeit auseinander lebt und Anfang der 80er-Jahre scheiden lässt. Ein berührender Film, von dem nur ein kleiner Ausschnitt während der Veranstaltung im Schauspielhaus gezeigt wurde. Für die komplette Vorstellung im Anschluss und damit noch eine weitere Stunde mochten sich nur wenige entscheiden.
In Frankreich zählt die vielfach preisgekrönte Annie Ernaux schon seit Jahrzehnten zu den Berühmtheiten der literarischen Szene. In Deutschland blieben erste Übersetzungen Mitte der 80er-Jahre und zu Beginn des Jahrtausends unbeachtet. Ihr später Ruhm kam mit dem Soziologen Didier Eribon, der sich 2016 in seinem viel diskutierten Buch "Rückkehr nach Reims" explizit auf sie als Vorbild für seinen autosoziobiografischen Ansatz berief. Auch er ein sozialer Aufsteiger, der es vom Arbeiterkind zum Universitätsprofessor geschafft hat. Gleiches gilt für seinen Schüler, den jungen Schriftsteller Édouard Louis, der mit seinen Büchern auch in Deutschland ein großes Publikum erreicht und Ernaux verehrt.
"Das Ereignis": Erzählung über Annie Ernauxs Abtreibung
Damit war der Bann gebrochen und eine neue Autorin entdeckt - dank zweier Männer, die wie sie aus der Unterschicht stammen. Selbst die Theater bekundeten bald ihr Interesse. Noch vor dem Nobelpreis für Literatur nahm das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg einen Text Ernauxs ins Programm: "Das Ereignis". Die Erzählung und Reflektion über ihre Abtreibung 1964.
Ernaux schreibt dichter und radikaler als ihre Verehrer Eribon und Louis. Der Reichtum ihrer Texte erschließt sich erst bei konzentriertem Lesen. Dann eröffnen sich ganze Gesellschaftspanoramen. Da schreibt eine Frau mit dem Furor der Wut ganz sachlich über ihr Leben, aber so genau und so offen, dass es weh tut und kaum auszuhalten ist. Wenn sie in "Erinnerung eines Mädchens" davon erzählt, wie der Mann, mit dem sie ihre erste Nacht verbracht hat, sie abblitzen lässt, sie sich aber dennoch nach ihm verzehrt und durchs Schlüsselloch schaut, nur um einen Blick auf ihn zu erhaschen, dann überträgt sich die Quälerei auf die Lesenden. Auch wenn viele das vielleicht nicht zugeben wollen. Sie kennen diese Hilflosigkeit, diese demütigenden Erfahrungen. Sie hatten es nur vergessen. Annie Ernaux bringt das Unsagbare zur Sprache. Das, was peinlich ist, wofür man sich schämt.
"Der Platz" und "Der junge Mann" in "Am Morgen vorgelesen"
"Der junge Mann" heißt das Buch über eine Liebesbeziehung zu einem über 30 Jahre jüngeren Mann, das am Montag erscheint und auf NDR Kultur am 20. Januar in der Reihe "Am Morgen vorgelesen" gelesen wird. Ein Text, der überraschenderweise auch sehr heiter ist, wenn sich die über 50-Jährige neben ihrem jungen Liebhaber beschreibt. Schamlos genau. Vom 16. bis zum 19. Januar läuft, ebenfalls in "Am Morgen vorgelesen", eine Lesung von Ernauxs Erzählung "Der Platz" aus dem Jahr 1983.