Sandra Richter, Literaturwissenschaftlerin und Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach im Portrait © David Ausserhofer/Insel Verlag
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AUDIO: Rainer Maria Rilke: Innenansichten eines Dichters (62 Min)

Sandra Richter zu Rilke: Humor trotz Sorgen und Nöten

Stand: 14.02.2025 06:00 Uhr

Rainer Maria Rilke war ironisch, hatte einen satirischen Blick auf die Welt und er war umgeben von starken Frauen. Doch er war auch krank. Sein Medikament: Blei. War das sein Todesurteil? Sandra Richter hat einen neuen Rilke kennengelernt und ein Buch geschrieben.

von Martina Kothe

Rainer Maria Rilke - seine epochemachende Literatur hallt bis heute nach. Gedichte wie "Der Panther", "Blaue Hortensie", "Herbst" oder "Duineser Elegien" zählen zum Literatur-Kanon, genauso sein Roman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge". Seine Schriften zu Kunst, Philosophie oder Literatur sind berühmt, seine Briefe ebenso. Wer aber war Rainer Maria Rilke? Sandra Richter, Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach (Baden-Württemberg), sitzt sozusagen an der Quelle, sie kann zu den exotischen Zeiten, außerhalb der Öffnungszeiten, dort lesen, forschen, arbeiten, denn sie hat "den Schlüssel". Und Marbach hat in Sachen Rilke eine Besonderheit: Erst vor kurzem, 2022, hat das Deutsche Literaturarchiv seinen Rilke-Bestand erweitert und das große Rilke-Archiv erworben. Aus diesem Material hat die Literaturwissenschaftlerin nun ein neues Rilke-Bild gezeichnet. Wie das aussieht, wie Sandra Richter "ihren" Rainer Maria Rilke neu zu deuten weiß, darüber spricht sie in NDR Kultur à la carte mit Martina Kothe.

In Ihrem noch relativ neuen Amt haben Sie wahrscheinlich bis auf Ausnahmen gar nicht mehr so viel im Archiv zu tun, wie es Ihnen selber lieb wäre, kann das sein?

Sandra Richter: Es ist so, dass ich mir jetzt die Zeit im Archiv abknapsen und schauen muss, wo ist noch Luft im Kalender? Aber es geht, vor allem morgens zwischen sieben und neun Uhr. Wenn das Archiv noch schläft und die Personen, die dort arbeiten, erst langsam ankommen, dann ist meine Zeit. Da kann ich die grünen Kisten öffnen und herausziehen, was immer ich lesen möchte. Das ist natürlich ein riesiges Privileg, denn ich habe den Schlüssel.

Sie haben eine Biografie über Rainer Maria Rilke geschrieben. "Das offene Leben" ist der Untertitel des Buches und es ist gerade im Suhrkamp Verlag erschienen. Die neuen Erkenntnisse sind in hohem Maße in diese Biografie eingeflossen. Sie kannten sich mit Rilke schon ganz gut aus. Was würden Sie sagen, wie hat sich ganz persönlich Ihr Rilke-Bild durch diese Arbeit verändert?

Richter: Rilke ist für mich eine sehr viel, wenn man das so sagen kann, rundere Persönlichkeit geworden. Jemand, der im Leben steht, jemand, der Familie und Freunde hat und der ein Zentralgestirn des Literaturbetriebs der Zeit ist. Für mich ist er nicht mehr der Dichter, der vom Berge herunter schreit. Er ist sehr bestimmt, das ist auch sein Leitmotiv und sein Leitbild, aber die Konturen sind aus meiner Sicht sehr viel schärfer und interessanter. Aus diesem Bestand lernen wir einen Rilke kennen, der Sorgen und Nöte hat, der humorvoll ist, der in Briefen zu seinem Kind spricht, der für jede Person eine andere Stimme beinahe entwickelt und alles mit in sein Werk aufnimmt.

Rainer Maria Rilke (Photographie 1906) © picture-alliance / brandstaetter images/Austrian Archives
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Viele Motive sind schon in Ihrer Biografie über Rilke angeklungen, zum Beispiel, dass er sich vor allem auch witzig ausgedrückt hat. Ich glaube, dass Rilke eine gewisse Ironie oder auch einen satirischen Blick auf die Welt hatte, ist etwas, womit man nicht gerechnet hätte, oder?

Richter: Nein und in dieser Tiefe ist es für mich auch tatsächlich neu. Schon der junge Rilke schreibt ein parodistisches Gedicht auf den bekannten tschechischen Dichter Jaroslav Vrchlický, mit dem er auch korrespondiert hat. Der späte Rilke amüsiert sich über sich im Wallis und schreibt seiner Mäzenin Nanny Wunderly-Volkart zauberhafte Briefe, die von einer tiefen Heiterkeit geprägt sind. Rilke, der Vater, schreibt seiner Tochter Briefe, in denen er sich veralbert, als er barfuß in Venedig am Strand herumläuft und die Krabben in seine Füße kneifen.

Rilke hat sich zeitlebens einerseits selbst therapiert, sowohl psychisch als auch physisch. Andererseits war er ein großer, leidenschaftlicher Kurgänger, um verschiedenste Gebrechen in den Griff zu bekommen. Ich glaube, was nicht neu ist, dass er eher kränklich war. Allerdings erfährt man ganz am Ende Ihres Buches, dass er sich wahrscheinlich durch eine Selbstmedikation vergiftet hat, und das war mit Blei.

Richter: In den Kuren hat er sich erholen können. Es ging ihm immer wieder besser, er hat auch fleißig geklagt, dass er sich dem Regime der Ärzte unterwerfen muss. Das passte ihm nicht. Aber er hat ein Mittel gegen Geschwulste angewandt und das war Blei. Rilke hat sich immer wieder von seiner Frau Bleipflaster besorgen lassen. Blei war damals so gebräuchlich wie heute vielleicht Zink. Es half, aber es hatte Konsequenzen. Es ist durchaus möglich, dass seine tödliche Krankheit durch das Blei begünstigt, wenn nicht sogar hervorgerufen wurde.

Das ist auch etwas, was mich an dem Buch sehr fasziniert hat: Der Versuch des Entschlüsselns dieses Charakters, der auch schon zu seinen Lebzeiten von seinen Musen, zum Beispiel von Lou Andreas-Salomé versucht wurde, zu entschlüsseln. Rilke hat sich aber dann der Psychoanalyse entzogen. Das wollte er nicht. Die Begründung fand ich auch interessant, dass er tatsächlich Sorge hatte, dass, wenn er seine Abgründe aufarbeiten würde, er seine dichterische und schriftstellerische Fähigkeit verlieren würde.

Richter: Unbedingt. Rilke hatte großes Glück, denn er war umstellt von starken Frauen. Es konnte eigentlich gar nichts schiefgehen. Da war Lou Andreas-Salomé, da war die schwedische Pädagogin Ellen Key, da war die Ehefrau und später noch viele andere mehr. All jene haben auf Rilke aufgepasst, sie haben ihn mitunter auch bemuttert. Das hat er durchaus geschätzt, und sie haben ihn inspiriert und das in Momenten, wo es schwierig und kritisch für ihn wurde. Vor allem, als er in Paris lebte, war er voller Angst geplagt und hatte die Sorge, dass er es nicht als Autor und Dichter schafft. Er hatte die Sorge, dass er der Großstadt nicht gewachsen ist.

Er schrieb diesen Prosatext über Malte Laurids Brigge, indem er seine Figur Malte zum Alter Ego macht. Malte sollte all die Ängste verarbeiten, die er eigentlich loswerden wollte, aber zugleich natürlich nur so, dass er weiter schreiben konnte. Das ist dieses zentrale Motiv, das immer wieder bei ihm auftaucht. Eine Psychoanalyse würde heißen, eine desinfizierte Seele, um ein Rilke-Zitat herzustellen. Desinfizierte Seele finde ich sehr stark, das ist natürlich wieder ein ironischer Hinweis. So möchte man nicht werden, sondern er möchte ein Mensch mit Ecken und Kanten sein.

Das Gespräch führte Martina Kothe in NDR Kultur à la carte. Einen Ausschnitt davon lesen Sie hier, das ganze Gespräch können Sie oben auf dieser Seite und in der ARD Audiothek hören.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur à la carte | 14.02.2025 | 13:00 Uhr

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Lyrik

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