"Robinsons Tochter": Biografie eines rebellischen Mädchens
Von Jane Gardam, der Grande Dame der englischen Literatur ist ein weiteres Buch auf Deutsch erschienen. Wie alle ihre Bücher wurde es meisterhaft übersetzt von Isabel Bogdan, die mit zwei eigenen Büchern bekannt geworden ist.
Jane Gardam, die in ihrem langen Leben mit vielen literarischen Preisen bedacht worden ist, wurde in Deutschland vor allem mit ihrer Bestseller-Trilogie um Old Filth bekannt. "Crusoe's Daughter" erschien im Original 1985.
1901 stirbt Queen Victoria, das "viktorianische Zeitalter" geht zu Ende. Drei Jahre später, 1904, zieht die sechsjährige Polly Flint zu ihren beiden frommen Tanten in das Gelbe Haus am Meer. Ihr langes Leben - Jane Gardam lässt sie in ihrer fiktiven Autobiografie achtundachtzig werden - beginnt unter schwierigen Vorzeichen: Sie ist Vollwaise und hat schon diverse Pflegefamilien überlebt. Im Gelben Haus fühlt sich Polly wenigstens geborgen:
Es war natürlich keine Rede davon, mich liebzuhaben, noch gab es sonstige Zuneigungsbekundungen, aber das machte nichts, denn ich hätte auch nicht gewusst, wie ich mit Liebe hätte umgehen sollen. "Was für ein braves kleines Mädchen sie ist", das sagten sie sogar vor mir, was ich wirklich nett fand. Leseprobe
Die Vollwaise Polly kommt zu einer neuen Pflegefamilie
Brav, das ist sie - und führt aber insgeheim ihr Leben. Denn da ist ja die Bibliothek von Grandfather Younghusband mit ihren wertvollen alten Büchern. Nur wenn es um die allgegenwärtige Religion geht, widersetzt Polly sich: Nein sagt sie zur Konfirmation, spricht mit einem persönlichen Schutzengel und durchschaut messerscharf das Glaubensgetue um sie herum.
Als ihre Lieblingstante Frances den Pastor heiratet und mit ihm nach Indien geht, folgt Polly der Einladung ihres aristokratischen Verwandten Mr Thwaite und seiner skurrilen Schwester, einer Künstlermäzenin, die in ihrem malerisch verfallenden Herrenhaus Künstler empfängt - und solche, die es sein möchten.
Eine große Rolle spielt die englische Literatur des 19. Jahrhunderts
"Robinsons Tochter" enthält wundervolle Beschreibungen und Charaktere mit Dickens'schen Qualitäten. Es ist ein Buch über Bücher: Jane Austen, George Eliot, die Brontës, die großen Schriftstellerinnen und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Pollys Beschäftigung mit ihnen führt Jane Gardam zu ihrer eigenen Romanpoetik.
Stets mit Humor: So gibt zum Beispiel der Skandalautor D.H. Lawrence dem Buch eine komische Wendung, als Polly ein sorgfältig verstecktes Buch von ihm entdeckt. Aber vor allem immer wieder Daniel Defoe, denn Pollys Lebensbegleiter ist Robinson Crusoe, mit dem sie sich identifiziert und den sie wie einen Gott verehrt.
Ich hätte ihn gemocht, den Robinson. Er hat die Dinge gern geradegerückt. Die hoffnungsvollen Aspekte aufgeschrieben. So vernünftig und mutig. So stark und schön. Er hat sich unglaublich um Selbstachtung bemüht. Er war natürlich ein Mann, da war das einfacher. Aus ihm lief nicht alle vier Wochen Blut, bis er alt war. Leseprobe
Für Emazipation und gegen Frömmelei
Ja, wenn ich ein Junge gewesen wäre! Das ist ein weiteres Thema dieses raffiniert gestrickten Buchs. Es ist auch die Geschichte einer Emanzipation, weniger durch streitbare Meinungen, denn durch auf den ersten Blick unspektakuläre Entscheidungen wie Pollys Auflehnung gegen die Frömmelei.
Ein Roman voller Geheimnisse und Überraschungen, bis zum Schluss. "In 'Robinsons Tochter' steht alles drin, was ich zu sagen habe", so Jane Gardam. Die Tiefenschärfe des Buches ist faszinierend: eine Poetik des Romans, das 20. Jahrhundert mit seinen Kriegen und dem Holocaust - und eine Frauengestalt, die im Gedächtnis bleibt: Polly Flint verlässt ihre einsame Insel nie ganz und findet doch am Ende ihre Bestimmung. Es wäre schade, sie nicht kennenzulernen.
Robinsons Tochter
- Seitenzahl:
- 320 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3-446-26783-1
- Preis:
- 24,00 €