Düstere Geschichte zweier ungleicher Brüder
In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Robert Louis Stevensons "Der Junker von Ballantrae".
Von Hanjo Kesting
Robert Louis Stevensons Roman "The Master of Ballantrae" hat in Deutschland nie eine breite Leserschaft gefunden, denn die Schwierigkeiten fangen bereits beim Titel an, der im englischen Original befriedigt, aber in keiner Übersetzung richtig herauskommt. Auf Deutsch ist der Roman als "Der Junker von Ballantrae" erschienen oder als "Die feindlichen Brüder", was inhaltlich zwar zutrifft, aber sich weit vom Original entfernt. So ist das Buch bei uns nie richtig angekommen, trotz so gewichtiger Fürsprecher wie Bertolt Brecht und Thomas Mann. Sonst selten einer Meinung, stimmten sie in diesem Punkt überein. Thomas Mann fand die literarischen Eigenschaften des Buches "schlechthin glänzend", Brecht sprach von einer "Erfindung allerersten Ranges". Der "Master von Ballantrae" spielt vor dem Hintergrund der schottisch-englischen Erbfolgekriege in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, es ist die düstere Geschichte zweier ungleicher Brüder, kühn und luziferisch-faszinierend der eine, bigott und überkorrekt der andere, beide in unversöhnlichem Streit um das väterliche Erbe und um dieselbe Frau, die den einen liebt und den anderen heiratet.
Zeitlebens hat Stevenson sich mit der Frage des gespaltenen Ichs beschäftigt, etwa in der berühmten Erzählung Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die von einem Doppelleben zwischen Gut und Böse handelt. In Der Master von Ballantrae stellt Stevenson die menschliche Dualität nicht als die zwei Seiten derselben Person dar, sondern als Dualität zweier Brüder. James und Henry Durie sind tödliche Opponenten, aber nicht im Sinne eines einfachen Gegensatzes, sondern jeder ist in sich selbst geteilt. Jeder folgt dem Gesetz, wonach er angetreten, ohne die tiefere brüderliche Verwandtschaft in sich ganz tilgen zu können.
Frage mit bitterer Einsicht
James, der Titelheld des Buches, gehört zu den faszinierendsten Charakterschöpfungen Stevensons: "Er verkörpert alles, was ich über den Teufel weiß", schrieb er in einem Brief. Doch ist James kein stupider oder bloß bestialischer Teufel, vielmehr ist das Fluidum des Bösen, das ihn umgibt, von verführerischem Reiz. Er besitzt eine unbestreitbare Anziehungskraft, die sogar seine Feinde in Bann schlägt. Im Verhältnis zu seinem Bruder aber schwelt unversöhnlicher Hass.
Die großen Tragödien – das wissen wir aus den Geschichten von Ödipus und Orest – sind im Kern immer Familiengeschichten. Das gilt auch für die Geschichte der Duries, in der James zunehmend die Rolle des Familiendämons spielt, der alle Geister der Hölle aufweckt, sogar bei denen, die sie bisher unter Verschluss gehalten haben. Und so wird sein Bruder Henry ihm im Hass immer ähnlicher. Wenn Stevenson in seinem Roman der Frage nachgeht, wie die Wurzeln des Guten und Bösen miteinander verschlungen sind, so gelangt er zu der bitteren Einsicht, dass es dem Bösen viel leichter gelingt, das Gute zu verderben, als es je dem Guten gelingen kann, das Böse auszutilgen.
Der "Master of Ballantrae" ist das außerordentliche Beispiel eines Abenteuerromans, der die menschlichen Abgründe ausleuchtet, dabei rein literarisch den Eindruck von Mühelosigkeit erweckt. Der Bruderkonflikt wird in mehreren Stationen entwickelt und gesteigert, alles ist überzeugend motiviert, der "gute" Henry wird im Laufe des Buches immer fragwürdiger, der "böse" James verliert nie an Faszination. Am Ende finden die Brüder ein gemeinsames Grab und bleiben auch im Tod aneinander gekettet; ungeachtet ihrer Feindschaft bilden sie wie Dr. Jekyll und Mr Hyde ein Ganzes, nur verwickelter und aufgespalten in sich selbst.Die Problematik von Gut und Böse wird vielfach gespiegelt, aber sie geht vollständig in der Struktur der Geschichte auf. Und obwohl diese Geschichte sich mit der Wucht einer antiken Tragödie entwickelt, hat der Leser nie das Gefühl, einer nihilistischen Welt gegenüberzustehen. Eben darin liegt der Zauber von Stevensons Kunst.
Zu den ersten Lesern des Buches gehörte Henry James, der an den jüngeren Kollegen schrieb: "Die größte Erregung in meinem literarischen Leben, wie in dem vieler anderer, ist der "Master of Ballantrae", ein reiner harter Kristall, ein Werk von unbeschreiblicher und auserlesener Kunst."