Philipp Felsch über Habermas: "Spricht nicht aus dem Elfenbeinturm"
Kulturhistoriker Philipp Felsch hat ein Buch über den Philosophen Jürgen Habermas geschrieben. Bis heute mischt sich der mittlerweile 95-jährige Philosoph in die politischen Debatten ein. Ein Gespräch mit dem Autor über einen Besuch bei Habermas und sein neues Buch.
Er gilt als "einflussreichster Philosoph", wurde als "Hegel der Bundesrepublik" bezeichnet, die Frankfurter Allgemeine Zeitung machte ihn zum "Popstar", und überhaupt wird Jürgen Habermas mit Superlativen überschüttet. Scharfsinnig beobachtet er, entrüstet sich, mischt sich ein in die politische Debattenlage. Das macht der heute 95-jährige schon seit vielen Jahrzehnten.
Solange er zurückdenken kann, war Jürgen Habermas "around" mit Texten, Büchern, Zeitungsartikeln, Statements. Das sagt der Kulturhistoriker Philipp Felsch. Er ist Jahrgang 1972, hat Philosophie studiert, lehrt heute an der Berliner Humboldt-Universität und hat sich mit philosophischen und soziologischen Werken, Systemen, Biografien beschäftigt. Mit dem Buch "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990" wurde Felsch 2015 einem breiteren Publikum bekannt. Jetzt hat er in seinem jüngsten Buch, "Der Philosoph. Habermas und wir" die Geschichte der alten Bundesrepublik durchleuchtet, sucht mit dem Zeitdiagnostiker nach Deutungen und Analysen in Vergangenheit und Gegenwart.
Herr Felsch, Sie beginnen Ihr Buch mit einer Reise von Berlin nach Starnberg. Da stand Jürgen Habermas dann leibhaftig vor Ihnen. Was war das für eine Situation für Sie?
Philipp Felsch: Der Besuch bei Habermas war tatsächlich entscheidend für mich, um dieses Buch zu schreiben. Es gab drei Schlüsselmomente während dieses Besuchs. Zunächst einmal erstaunte mich die prompte und sehr großzügige Einladung, die von ihm nicht in ein schmales Zeitfenster gepresst wurde, sondern es war eine Einladung zum Kaffeetrinken, die Open End ist und bis in den frühen Abend ging. Habermas öffnete die Tür von seinem modernistischen Bungalow in Starnberg. Er ist nach der Jahrtausendwende als "Hegel der Bundesrepublik" bezeichnet worden. Ich hatte in diesem Moment das Gefühl, der "Hegel der Bundesrepublik" ist in Wirklichkeit ein Amerikaner. Er stand nämlich eher, wie ein Ostküsten-Intellektueller vor mir, und zwar mit kakifarbenen Chinos, also Baumwollhosen und Turnschuhen. Er hatte 2022 etwas Geradliniges, Agiles, dass ich ihn gar nicht so ordinarienhaft fand, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Ich habe eher eine Gestalt im Cord-Sakko mit sehr verschraubten, umständlichen Formulierungen erwartet und das war Habermas gar nicht. Der erste Eindruck: der einer Weltläufigkeit, eines kosmopolitischen Gegenübers, das ich sofort auch als repräsentativ für diese alte Bundesrepublik gesehen habe: die Westorientierung, die starke Orientierung nach Amerika. Ich habe sie selber biografisch durchlaufen. Ich war auch im Austauschjahr in Washington D.C. und habe mich, zumindest temporär, äußerlich in einen kleinen Amerikaner verwandelt.
Mein zweiter Eindruck von Habermas: Wir sitzen bei den Habermasens, in der Couchecke. Die berühmte, das kommunikative Epizentrum des Hauses Habermas. So ist es auch schon mal bezeichnet worden. Normalerweise lassen sich Philosophen immer nur vor ihren Bücherwänden fotografieren, das hat Habermas auch getan, aber er bevorzugt, glaube ich, die Couchecke. Für einen Philosophen des Dialogs und der Kommunikation macht das natürlich auch Sinn. Dieser zweite Eindruck, der einer gewissen saturierten Provinzialität, ist vielleicht auch typisch für das Westdeutschland der Nachkriegsjahrzehnte. Wir hörten noch das Brummen eines Rasenmähers, das ist auch so ein Kindheitsgeräusch an lange, ereignislose Sommernachmittage.
Da kam bei Ihnen einiges zusammen.
Felsch: Da kam viel zusammen, und dann kam der in gewisser Weise dramatische Höhepunkt dieses Nachmittags. Gegen Ende unseres Gespräches kamen wir auf den Ukraine-Krieg zu sprechen und das Statement, das Habermas im Frühsommer 2022 in der Süddeutschen Zeitung abgegeben hatte. Er hatte für Zurückhaltung plädiert und sehr viel Kritik dafür geerntet. Er sagte mir in unserem Gespräch, er habe zum ersten Mal das Gefühl, die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr zu verstehen. Als ich auf dem Rückweg war, hatte ich das Gefühl, ich bin der alten Bundesrepublik heute noch einmal begegnet, aber möglicherweise auch ihrem Ende. Dem Ende einer bestimmten politischen Kultur, die wir möglicherweise gerade erleben. Und das war der Eindruck, aus dem das Buch hervorgegangen ist.
Jürgen Habermas ist gerade 95 Jahre alt geworden. Was wäre aus Ihrer Sicht der stärkste und der wichtigste Impuls, der von Habermas gekommen ist, der vielleicht auch bleibt?
Felsch: Ich würde sagen, es sind zwei. Es ist zum einen eine Veränderung der Rolle des Philosophen. Das ist, glaube ich, gerade in der deutschen Kulturgeschichte eine Innovation von Habermas gewesen. Er argumentiert und spricht nicht aus der Stille des Elfenbeinturms, aus der Entrücktheit des Elfenbeinturms, sondern auf der tagespolitischen Höhe der Zeit. Der muss Zeitungsleser und Mediennutzer sein, und das war Habermas immer, und dahinter sollten wir nicht zurückgehen. Das zweite ist tatsächlich das Nachdenken über die Öffentlichkeit. Das hat Habermas im Grunde in den 1960er-Jahren erfunden. Dass liberale Demokratien wesentlich davon abhängen, wie ihre Öffentlichkeit getaktet und geschaltet ist. Wir stecken gerade selbst wieder in so einer massiven Transformation der Öffentlichkeit und ohne uns über diese Form der Kommunikation bewusst zu sein, welche Rolle Medien spielen, ohne darüber nachzudenken, können wir nicht sinnvoll über unser Zusammenleben nachdenken. Das ist ein Erbe von Habermas, das ganz entscheidend ist.
Das Gespräch führte Claudia Christophersen.