Fußball-EM: Ronald Reng über die Möglichkeit sich zu ärgern
Der Journalist und Fußball-Experte Ronald Reng stimmt auf die Europameisterschaft ein. Für ihn ist der Fußball Anlass und Vorwand, über das Leben zu schreiben und warum wir uns so herrlich aufregen können.
Am 14. Juni ist es so weit, dann wird in der Münchner Fußball-Arena das Eröffnungsspiel der Europameisterschaft 2024 angepfiffen. Vier Wochen spannungsintensive und fieberhafte Fußballwochen stehen bevor. Ronald Reng ist Sportjournalist und hat wichtige Bücher über den Fußball, über Fußball-Karrieren und Schicksale geschrieben. Für sein Buch "Spieltage. Die andere Geschichte der Bundesliga" (2013) wurde Reng mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem "NDR Kultur Sachbuchpreis".
Nun hat Ronald Reng wieder ein Buch vorgelegt, in dem er auf ein Fußball-Ereignis vor 50 Jahren zurückblickt, als Deutschland in zwei Hälften geteilt war und die beiden Staaten sich bei der Fußballweltmeisterschaft an einem Sonnabend in Hamburg gegenüberstanden: "1974 - Eine deutsche Begegnung. Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte", so der Titel seines neuen Buches. Grund genug zu fragen: Was bedeutet Fußball in der Geschichte und Gegenwart? Welche magischen Momente sind mit diesem Sport verbunden? Welche politischen und historischen Implikationen kann das Spiel mit dem Ball haben? Darüber spricht Alexander Solloch mit Ronald Reng in NDR Kultur à la carte. Einen Auszug aus der Sendung lesen Sie hier.
Warum spielen und lieben Menschen eigentlich Fußball? Sie widmen diesem Sachverhalt eine ganz schöne Passage in Ihrem neuen Buch. Da lesen wir: "Gegenüber anderen Mannschaftssportarten hat Fußball den Vorteil, unberechenbarer, auch ungerechter zu sein." Diese Ungerechtigkeit klingt erst mal nicht nach einem Vorzug, das müssen Sie erläutern.
Ronald Reng: Zum einen regen wir Menschen uns wahnsinnig gerne auf, und ein Fußballspiel gibt uns sehr viele Gründe, sich aufzuregen: Der Schiedsrichter trifft eine Fehlentscheidung, der Ball springt falsch oder ein Spieler macht einen Fehler. Im Nachhinein betrachtet, ist der Videobeweis eigentlich auch ein großes Glück. Man hatte gedacht, er merzt die Möglichkeit, sich aufzuregen, aus, aber er bietet jetzt noch viel mehr Potenzial, sich zu ärgern. Die Menschen finden im Fußball immer wieder neue Gründe, sich aufzuregen. Das zieht viele magisch an, aber natürlich zieht die Menschen vor allem das Unberechenbare an. Das fasziniert uns. Wenn im Basketball eine Mannschaft überlegen ist, macht sie auf der Strecke des Spiels zehn Körbe mehr als die andere Mannschaft. Aber im Fußball reicht ein Tor, ein Moment. Und das kann eine schlechtere Mannschaft erreichen, indem sie das tolle Spiel der guten Mannschaft zerstört und in einem Moment besser ist. Das können wir Menschen irgendwie nicht verarbeiten, das fasziniert uns. Hier können wir zuschauen, wie zufällig, wie glückselig, wie ungerecht das Leben ist.
Das heißt, all das Gewese um taktische Fragen, die wir in den letzten Jahren beobachten konnten, die auch jüngere Trainer wie der gegenwärtige Bundestrainer Julian Nagelsmann eingebracht haben, sind unsinnig? Wenn man bedenkt, wie zufällig und unvorhersehbar dieses Spiel ist.
Reng: Nein, als Fußballtrainer sind Sie der Don Quichotte, der die ganze Zeit gegen diese Zufälle anreitet.
Aber er hat keine Chance, oder?
Reng: Er hat keine Chance. Aber er will es nicht einsehen. Jeder Fußballtrainer versucht, das ist sein oberstes Ziel, den Zufall - den Einfluss des Zufalls - zu minimieren. Und die Fußballtrainer heute sind viel weiter als die Fußballtrainer vor 50 Jahren. Guardiola, Nagelsmann, die haben so viel taktische Strategien entwickelt, dass der Zufall immer geringer wird. Aber er wird im Fußball immer bleiben.
Der Fußball ist ein Bilder-Sport. Man muss ihn sehen, um ihn tatsächlich in seiner ganzen Macht, Bedeutung und Tragweite zu spüren. Deshalb drücken sich wahrscheinlich die Literaten immer so davor, ihre Geschichten auf dem Platz spielen zu lassen. Wie schwierig finden Sie es als Sachbuchautor, über Fußball, also den reinen Fußball an sich, zu schreiben?
Reng: Zunächst ist der Fußball für mich immer nur Anlass und Vorwand, über das Leben zu schreiben. Ein Buch nur über Fußball habe ich noch nie geschrieben. Das Faszinierende ist es, hinter den Fußball und den Platz zu schauen. Zum einen das Vordergründige zu erklären, nicht nur zu sagen, wir sehen da, wie der Spieler X den Pass auf den Spieler Y schlägt, sondern zu erklären: Warum macht er das, wie gelingt ihm das, was steckt dahinter - welche Strategie? Dann ist es wichtig zu beschreiben: Was macht der Fußball mit den Leuten, wie verwandelt er sie, in welche emotionalen Ausnahmezustände versetzt er sie? Im Fußball steckt eigentlich alles drin, was das Leben zu bieten hat: Dramen, große Persönlichkeiten, Kriminalität. Alles, was Sie sich nur vorstellen, finden Sie im Fußball. Deswegen ist der Fußball ein wunderbarer Anlass, über das Leben zu schreiben.
Das Gespräch führte Alexander Solloch.