Oscar Wilde: "Das Bildnis des Dorian Gray"
In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Oscar Wildes: "Das Bildnis des Dorian Gray"
Von Hanjo Kesting
Der Versuch, Oscar Wildes Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" unter die "Großen Romane der Weltliteratur" einzureihen, könnte das Stirnrunzeln strenger Kunstrichter hervorrufen. Man kann in diesem Buch viele Mängel und Fehler finden, und der Vorwurf ist nicht von der Hand zu weisen, es handle sich in erster Linie um ein Meisterwerk der dekorativen Kunst. Trotzdem besitzt dieses Buch eine Art von Unwiderstehlichkeit, es geht ein Zauber von ihm aus, der jeden Leser ungeachtet aller Fehler und Mängel unweigerlich in Bann schlägt.
Veröffentlichung zunächst in einer Zeitschrift
"Das Bildnis des Dorian Gray" erschien 1890 zunächst in einer Zeitschrift, die erweiterte Buchfassung kam zehn Monate später heraus. Von diesem Tag an hatte die viktorianische Literatur ein anderes Aussehen, denn Oscar Wilde propagierte in seinem Roman einen Kult der Schönheit und eine neue ästhetische Lebenslehre. Sie war eine Revolte gegen die viktorianische Moral der Zeit, gegen die bürgerliche Moral im Allgemeinen, ja gegen die moralische Weltansicht überhaupt, gemäß der Feststellung von Thomas Mann, es gäbe im Grunde nur zwei Ansichten der Welt, die moralische und die ästhetische. Oscar Wilde führte seine Revolte im Namen des Ästhetischen, er war, wie James Joyce gesagt hat, ein "Apostel der Schönheit".
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Wilde's Dorian Gray als homosexuellen Roman zu deuten, nicht zuletzt weil das Schicksal des Autors, den man wegen sogenannter "Sodomie" für zwei Jahre ins Zuchthaus sperrte, es nahelegt. Tatsächlich bot in der spätviktorianischen Gesellschaft nur die ästhetische Existenz die Möglichkeit, Homosexualität gleichzeitig zu enthüllen und zu verbergen.
Roman mit drei Hauptfiguren
Der Roman präsentiert drei Hauptfiguren: den Maler Basil Hallward, der gerade das Porträt eines jungen Mannes gemalt hat, Lord Henry Wotton, einen Dandy, der unablässig mit seinen Paradoxen jongliert, und den Titelhelden Dorian Gray, einen jungen Mann von ungewöhnlicher Schönheit, den Hallward gemalt hat und den Lord Henry nun auffordert, seine Jugend zu verwirklichen, solange er sie besitze: "Suchen Sie stets nach neuen Sinnesreizen. Ein neuer Hedonismus - das ist es, was unser Jahrhundert braucht." Dorian lässt sich davon in Bann schlagen. Vor dem fertigen Porträt spricht er den Wunsch aus, dass nicht er, sondern an seiner Stelle das Bildnis altern möge. Da ahnt er noch nicht, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen wird.
Das Grundmotiv des Buches ist in der Literatur nicht neu, man erkennt dahinter ältere Vorbilder wie Peter Schlemihl, der seinen Schatten, oder E.T.A. Hoffmanns Reisenden, der sein Spiegelbild verkauft. Und noch älter ist die tiefsinnige Geschichte von Narziss, der sich in sein Spiegelbild verliebt.
Gemälde verkörpert das Gewissen
Das Bildnis ist das geheime Zentrum des Buches. Es verkörpert das Gewissen, von dem Dorian Gray sich loszusagen versucht. Aber dadurch tötet er sich selbst. Diese Einsicht gehört zur inneren Logik des Romans, und so ist es nur konsequent, dass Dorian Gray, nachdem er den Maler des Bildes ermordet hat, auch dessen Bild zu ermorden sucht. Der springende Punkt der Geschichte ist nicht, dass ein Mensch sich von seinem Gewissen lösen kann, sondern dass er es nicht kann. Das haben die meisten Leser des Buches von je verstanden; das, und nur das, hat ihm eine so große Resonanz verschafft. Und so ist Oscar Wilde das erstaunliche Beispiel eines esoterischen Künstlers, der wirklich populär wurde, der einzige Dandy, der nicht zur historischen Arabeske geschrumpft ist.
Wilde hat für das "Das Bildnis des Dorian Gray" viele Quellen benutzt und sich vieler Anregungen bedient. Was groß und schöpferisch war in seinem Jahrhundert, hat er aufgegriffen: die wilde Welt Balzacs, die kunstvolle Prosa Flauberts, die Ironie Heines, die Melancholie Andersens, das Mitleid der großen Russen, und all das hat er durchtränkt mit der eigenen Sehnsucht nach Schönheit. In dieser Synthese liegt seine Originalität, sein Genie. Und das sichert dem Roman seinen Platz unter den seltenen Werken, die nicht nur die Jahrzehnte überdauert haben, sondern sogar durch das Gift des populären Ruhms nicht umzubringen sind.