Nachgedacht: Auf in den Wald!
Überall unruhige Zeiten. Darauf noch gelassen zu reagieren, fällt schwer. Gehen wir in den Wald, empfiehlt Claudia Christophersen.
Wir sind mitten im Wahlkampfgewitter. Letzte Woche: aufgeregte Debatten im Bundestag zur Migration mit wüsten Beschimpfungen, hektischem Schlagabtausch, schriller Wortwahl. Diese Woche dann: Fortsetzung auf allen Ebenen, immer die Frage im Hintergrund: Welche Partei macht am 23. Februar das Rennen? Wie überhaupt wird die politische Zukunft in Deutschland aussehen?
Und jenseits des Atlantiks löst ein Präsident launenhaft weltweite Schockwellen aus. Zickzack-Kurs mit Strafzöllen. Geopolitische Neuerfindungen, die da jüngst heißen: der kriegszerstörte Gazastreifen soll mit einem Fingerschnipp in eine "Riviera des Nahen Ostens" verwandelt werden mit hübschen Häusern und Beachlife. Die Palästinenser, rund 1,8 Millionen, ach, die würden einfach umgesiedelt nach Ägypten, Jordanien oder so. Hui. Das sind krude Ideen, Nachrichten, die mehr als verunsichern.
Dauermodus einer nervösen Gereiztheit
Menschen reagieren auf das nervöse Weltgeschehen, sind tief beunruhigt, gereizt, verängstigt. Mir fällt da das berühmte Kapitel "Die große Gereiztheit" aus Thomas Manns "Der Zauberberg" ein: "Was gab es denn? Was lag in der Luft? - Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge." Sätze vor über hundert Jahren geschrieben, die sehr aktuell klingen. Thomas Mann, dessen 150. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, hatte das Gespür für Gegenwartsdiagnosen.
Und ja, sich mal aufzuregen, ist wichtig und auch richtig. In einen Dauermodus der nervösen Gereiztheit zu kommen ist aber sicher nicht die elegante Haltung zur Welt. Was hilft also? Wie können sich Menschen, wie kann sich eine Gesellschaft in solchen Zeiten ins kluge, vernünftige Gleichgewicht schwingen? Gerade während und nach der Pandemie wurden neue Studien zur Resilienz erarbeitet. Wir wissen also, dass Kraft, Energie wieder aufgebaut, Lebensgeister erfrischt werden können, indem wir etwa einen Moment zur Seite, in die Ruhepause treten, um dann wieder mit neuem Schwung gestärkt weitermachen zu können.
Uns kurzzeitig wieder ins Lot bringen
Leicht gesagt, ich weiß. Die Videoperformerin Pipilotti Rist hat sich das auch alles überlegt, und geht in den Wald. In Bremen nimmt sie uns gerade an die Hand, führt uns in einen Raum, der wie ein Labyrinth mit bunt leuchtenden LED-Kugeln ausgestaltet ist. Von der Decke funkeln Punkte, Pixel, die ihre Farbe zu Musikklängen wechseln. Für Pipilotti Rist sind das Bäume, das ist ihr "Pixelwald". Genau den will die Schweizerin mit ihrer Kunst schaffen.
Der Wald als Raum, in dem das, was außerhalb passiert, mal kurz vergessen werden kann. Das mag der Kunst-Pixelwald von Pipilotti Rist tatsächlich möglich machen. Stellen wir uns das vor, regen wir unsere Phantasie an, zumindest, um uns kurzzeitig wieder ins Lot zu bringen. Auch Peter Handke empfiehlt das übrigens in seinem neuen, kleinen Buch "Schnee von gestern, Schnee von morgen". Da lautet ein Tageshoroskop: "Destillieren Sie einen Hauch Phantasie aus Ihrem Tun." Es könnte sich lohnen, das zumindest mal auszuprobieren.
Anmerkung der Redaktion: Liebe Leserin, lieber Leser, die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie diese Kolumne geben die persönliche Sicht der Autorin wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sie sich bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.
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