Leben wir in einer gespaltenen Gesellschaft? Gespräch mit Linus Westheuser
Im medialen Diskurs ist häufig von einer "gespaltenen Gesellschaft" die Rede. Empirisch gebe es für eine Spaltung der Gesellschaft aber kaum Anhaltspunkte, sagt Soziologe Linus Westheuser im Philosophie-Podcast Tee mit Warum.
Gemeinsam mit Steffen Mau und Thomas Lux von der Berliner Humboldt-Universität hat Linus Westheuser über Jahre die deutsche Gesellschaft in einer großen Studie erforscht. In ihrem Buch "Triggerpunkte" nehmen sie sich die vier Arenen vor, in denen gerade besonders ausgeteilt wird: Ungleichheit, Migration, Diversität, und Klima. Es gebe viele Konflikte, aber die Vorstellung, dass sich zwei feindliche Lager gegenüberstehen, lasse sich in den Daten nicht nachvollziehen. Es gebe aber "Triggerpunkte", bei denen die wenig ideologische Mitte plötzlich emotional wird. Im Philosophie-Podcast Tee mit Warum spricht Linus Westheuser darüber, warum uns bestimmte Themen wie Tempolimit oder Genderstern besonders reizen. Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier. Das ganze Gespräch finden Sie in der ARD Audiothek.
Befinden wir uns in einer gespaltenen Gesellschaft? Was würdest du denn als Antwort geben, wenn es nur ein klares Ja oder Nein geben könnte?
Linus Westheuser: Wenn es nur Ja oder Nein geben kann, dann würde ich deutlich zum Nein tendieren. Wir haben uns angeschaut: Wie sehen Einstellungen zu verschiedenen Konfliktthemen in Deutschland aus? Migration, Klimaschutz, Diversität, Umverteilung und so weiter. Dann haben wir geschaut, ob sich das alles in eine gespaltene Konfliktlandschaft zusammenfügt, wo man auf der einen Seite das eine Lager hat und auf der anderen Seite das andere Lager. Ob sich die verschiedenen Konfliktthemen zu einer Art Metakonflikt aufreihen. Dass dann klar ist: Wer gegen Gendersternchen ist, der ist auch gegen Migranten und der ist auch gegen Klimaschutz. Und auf der anderen Seite gibt es das andere Lager, mit der genau entgegengesetzten Haltung zu all diesen Themen. Aber wir haben rausgefunden, dass das eigentlich nicht der Fall ist. Für diese Art der Spaltung der Gesellschaft finden wir eigentlich keine oder nur ganz punktuelle Hinweise in unseren Daten.
Ihr habt in eurem Buch dieses schöne Bild des Kamels und des Dromedars gewählt. Ihr sagt: Es gibt gar nicht diese zwei großen Pole, sondern Deutschland ist eigentlich ein Dromedar mit einer breiten Mitte. Kann sich dieser Höcker nicht auch in eine Richtung verschieben?
Westheuser: Das ist die große Angst, wenn man vom Rechtsruck spricht. Ich mache mir da auch immer wieder Sorgen. Aber alle Daten, die wir uns dazu angeschaut haben, sprechen eigentlich gegen diese Deutung eines Rechtsrucks. Man sieht es auch bei den Einstellungen zu Migration - wo man jetzt am ehesten erwarten würde, dass da ein Rechtsruck stattgefunden hat. Es ist auch nach 2015 nicht zu einer Rechtsverschiebung gekommen, sondern diese Einstellungen sind einfach stabil geblieben. Es gab vorher schon viele Leute, die stark gegen Migration waren und die gibt es auch weiterhin, aber es werden nicht mehr. Die einzige Arena, wo es wirklich eine richtig heftige Verschiebung gibt, ist die sogenannte Wir-Sie-Arena - also Anerkennungs- und Identitätskonflikte. Da sieht man, dass der ganze Dromedarrücken in die liberale Richtung rutscht. Wenn man sich vorstellt: Wie wurde in den 50er-Jahren über Homosexualität geredet? Wie wird heute darüber geredet? Da hat eine enorme Liberalisierung stattgefunden.
Zumindest die Daten, die wir haben, die bis 2022 reichen, sprechen gegen diese Vorstellung von einem Rechtsruck. Ich würde aber auf keinen Fall sagen, dass es deshalb nicht möglich wäre. Es kann natürlich dazu kommen und es gibt international Beispiele, wo das auch passiert ist. Aber wir sehen in den letzten drei Jahrzehnten in Deutschland eigentlich keinen Hinweis darauf.
Es gibt Momente, wo auch die wenig ideologische Mitte gereizt wird. Ihr habt euer Buch auch "Triggerpunkte" genannt. Welche Themen sind das?
Westheuser: Selbst diese Mitte, die häufig eher abwägend oder indifferent ist, geht bei bestimmten Themen total an die Decke. Das haben wir in diesen Fokusgruppen beobachtet. Ein bestimmtes Wort fiel - zum Beispiel Clan-Kriminalität oder Gendersternchen - und sofort ging der Empörungspegel massiv nach oben. Es kam zu einer Erhitzung, einer Intensivierung der Konversation. Wir haben versucht zu verstehen, an welchen Stellen das passiert und festgestellt, dass es immer Punkte sind, wo ein impliziter Gesellschaftsvertrag, den die Leute voraussetzen, gebrochen wird. Ein Beispiel: Gruppen sollten im Grunde gleichbehandelt werden, es sollte niemand diskriminiert werden. Es sollte aber auch niemand Sonderrechte bekommen. An verschiedenen Stellen sieht man dann: Es regt die Leute wahnsinnig auf, wenn jemand schlechter behandelt wird als jemand anderes. Es regt sie aber auch auf, wenn Minderheiten vermeintliche Sonderrechte bekommen: Also zum Beispiel wenn es für Transpersonen in öffentlichen Schwimmbädern eigene Schwimmzeiten gibt. Es gibt eine grundlegende Egalitäterwartung, die man einfach implizit voraussetzt. Genauso gibt es verschiedene andere Aspekte von diesem Gesellschaftsvertrag, die triggern, wenn sie gebrochen werden. Zum Beispiel, dass die Dinge unter Kontrolle bleiben, dass die Rate der Veränderung sich nicht zu sehr beschleunigt. Das ist häufig bei Themen von Migration, dass die Leute das Gefühl haben: 'Hier gerät etwas außer Kontrolle. Wir werden jetzt überschwemmt und die kommen jetzt alle hierher'. Teilweise auch so ganz hysterische Vorstellungen: 'Bald wird hier die Scharia eingeführt' und so weiter. Die kommen aber alle aus diesem subjektiven Gefühl: 'Die Dinge geraten außer Kontrolle'. Es kommt zu so einer Entgrenzungsbefürchtung. Das ist auch eine ganz typische Form von Triggerdynamik.
Bei den Fokusgruppen haben ökonomische und auch klassenspezifische Themen eine große Rolle gespielt, die identitätspolitischen Themen dagegen eher eine geringere Rolle. Sind das häufig auch Scheindebatten? Sind ökonomische Themen den Leuten nicht doch wichtiger?
Westheuser: Viele der Themen, in der anerkennungspolitischen Arena sind natürlich nicht irrelevant. Fragen wie der Gender-Pay-Gap oder ob ich komisch angeguckt werde, wenn ich mit meinem Partner Händchenhalten durch die U-Bahn laufe. Das sind handfeste Fragen, die man nicht so abtun sollte.
Aber bestimmte Trigger-Themen - wie zum Beispiel der Genderstern - erhalten eine total überproportionale Aufmerksamkeit. Wir haben es auch in unserem Fokusgruppen gesehen. Dass da Leute gesagt haben: 'Mein Gott, warum müssen wir immer über den Genderstern reden, ich habe da überhaupt keine Lust mehr drauf. Um dann die nächsten 20 Minuten genau über den Genderstern zu reden. Irgendwas ist an diesen Themen, was dazu anreizt.
Aber die sozialen Themen sind extrem präsent. Die Miete, Renten, Löhne, steigende Preise, Ungerechtigkeit. Das ist extrem präsent im Sprechen der Leute. Dafür ist es eigentlich politisch derzeit ein sehr stillgelegter Konflikt.
Bräuchte es bei dieser Frage nicht eigentlich ein bisschen mehr Spaltung als derzeit vorhanden ist?
Westheuser: Diese Grunderwartung, die wir im Buch haben, dass an der Stelle eigentlich ein Konflikt zwischen oben und unten sein müsste, die ist jetzt nicht nur aus unserer Meinung gespeist. Auch aus der soziologischen Brille ist das eigentlich der strukturell wahrscheinlichste Konflikt. Die Gesellschaft ist strukturell so ungleich verfasst, speziell in Deutschland ist das Eigentum enorm ungleich verteilt. Es gibt ja immer diese Zahl: Zwei Familien in Deutschland haben so viel Vermögen wie die unteren 40 Millionen - also die Hälfte der Bevölkerung. Wo man denkt, das müsste eigentlich zu Konflikt führen. Auch historisch war das immer die Sollbruchstelle des demokratischen Kapitalismus. Dieser Widerspruch zwischen einem Gleichheitsanspruch, den die Demokratie formuliert, und einer realen Ungleichheit im Wirtschaftssystem.
Dieser Konflikt ist nicht ganz stillgelegt. Es kommt immer wieder zu Streiks und zumindest bei den Jusos regen sich wieder neue Vorschläge, die soziale Themen wieder nach vorne stellen wollen. Aber man sieht, dass das eine Arena ist, die sehr institutionalisiert ist. Wo Leute miteinander am Tisch etwas auskungeln, aber wo auf der Straße nicht so viel passiert. Auch die politische Kanalisierung der Wut, die durchaus da ist, funktioniert nicht so richtig. Das liegt unter anderem daran, dass es immer das Angebot gibt, statt nach oben nach unten zu treten. Solche Debatten wie beim Bürgergeld: 'Da lohnt sich es ja gar nicht mehr zu arbeiten', 'die liegen nur faul rum und lassen sich es gut gehen und unser eins arbeitet hart dafür'. Das führt genau zu dieser Art der Entsolidarisierung.