Laurence Sterne: "Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman"
In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Laurence Sternes "Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman".
Von Hanjo Kesting
"Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman" von Laurence Sterne ist in der Geschichte der Literatur ein perfektes Unikat. Ein Buch ohne Vorläufer und Nachfolger, keiner Schule angehörig, "outstanding" im Sinne des Wortes. Es erschien in neun Bänden zwischen 1759 und 1767, über acht Jahre hinweg, und es hatte den Autor, bevor es überhaupt in Gänze erschienen war, berühmt gemacht, nicht nur in England, sondern auch in Frankreich und Deutschland. Lessing erklärte sich bereit, für ein weiteres Buch von Sterne fünf Jahre seines Lebens zu opfern.
Ein verwirrendes, zweideutiges Buch
Dabei ist es ein merkwürdiges, verwirrendes Buch, sprunghaft, launisch, verspielt, geistvoll, weitschweifig, zweideutig, nicht selten obszön, ein veritables Leseabenteuer, das aber nicht nach dem Muster des Abenteuerromans mit Spannungsreizen operiert, sondern allein im Kopf des Lesers stattfindet. Es kommt mit wenig Personal und nur zwei Hauptfiguren aus; das sind, anders als der Titel suggeriert, Tristram Shandys Vater und sein Onkel Tobias, genannt Onkel Toby, während der Titelheld selbst eine eher untergeordnete Rolle spielt als bloßes Medium oder Sprachrohr des Erzählers. Über ihn erfährt man nur wenig: Im ersten Buch wird Tristram gezeugt, im dritten geboren, im vierten getauft, im fünften durch ein herabfallendes Schiebefenster unfreiwillig beschnitten. Im sechsten Buch beschließen die Eltern, ihrem Sohn ein paar Hosen anpassen zu lassen. Daraus folgt, dass Tristram den ganzen Roman hindurch nie so recht aus dem Kindesalter hinauskommt.
Permanentes Abschweifen
Die Chronologie wird immer wieder durchbrochen, ja in ihr Gegenteil verkehrt durch Sterne's Erzähltechnik der permanenten Abschweifung. Der Handlungsfaden reißt nicht nur sehr oft, er kann sich auch verwirren, verwickeln oder in umgekehrter Reihenfolge abrollen, so dass die erzählte Zeit mutwillig durcheinandergewirbelt wird. Alle konventionellen Vorstellungen von einem Roman, wie sie im achtzehnten Jahrhundert noch bestanden, werden hier aus den Angeln gehoben. Wenn der Titelheld geboren wird, ist das Buch bereits zur Hälfte fortgeschritten; wenn seine unglückliche Beschneidung erfolgt, sind drei Viertel des Textes absolviert; und der Roman schließt mit Ereignissen, die der Geburt des Helden lange vorausliegen.
Sterne ignoriert die Regeln des Romans, indem er zum Beispiel die Vorrede wie aus heiterem Himmel im dritten Band nachholt oder ganze Kapitel ohne Text lässt oder vollständig überspringt, um sie bei späterer Gelegenheit, an passender oder unpassender Stelle, wieder einzufügen. Einige Kapitel bestehen nur aus einem einzigen Satz, andere werden angekündigt, aber nie geschrieben. Die Technik der Abschweifung wird so meisterhaft geübt, dass man nicht immer weiß, ob man sich noch in der Erzählung oder bereits wieder in einer Abschweifung befindet. Und im Grunde ist der ganze Roman eine Kette von immer neuen Abschweifungen, denn die eine Abschweifung bringt die nächste hervor, und das Buch kommt zwar als Erzählung voran, aber das, was erzählt wird, tritt eigentümlich auf der Stelle. Jedenfalls ist das ganze Buch von einer eigentümlichen Doppelbewegung bestimmt, vorwärts und rückwärts zugleich.
"Tristram Shandy" ist bis heute ein Markstein in der Geschichte des Romans, aber es ist zugleich ein Buch voller Gefühl, Leben, Liebe, Geist und Humor, und auch die Sexualität ist darin als bestimmende Kraft des Menschen erkannt und festgehalten. Wortwitz und Zweideutigkeit können sich von einem Augenblick auf den anderen mit Passagen reiner Poesie abwechseln, reich an Gefühl und Weltschmerz. Sterne besitzt einen solchen inneren Reichtum, dass er uns über siebenhundert Seiten zu unterhalten vermag. So hat das Buch bei seinem Erscheinen die besten Geister Europas begeistert: Voltaire und Diderot, Goethe und Jean Paul. Es war Nietzsche, der für Sterne die bündige Formel fand: "der freieste Schriftsteller aller Zeiten".