Karl Philipp Moritz: "Anton Reiser"
In 25 Folgen der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Karl Philipp Moritz' "Anton Reiser".
Von Hanjo Kesting
Kann man das eigene Leben beschreiben, ohne es zu verfälschen oder zu beschönigen? Unter den vielen Versuchen, die wir aus der Literaturgeschichte kennen, stellt der "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz wahrscheinlich die größtmögliche Annäherung an das im Prinzip Unmögliche dar. Das Buch erschien in vier Bänden zwischen 1785 und 1790, ein Jahrzehnt nach Goethes "Werther", und ist im Untertitel als "psychologischer Roman" bezeichnet. Moritz verarbeitete darin seine eigene Kindheit und Jugend, aber - und das ist der entscheidende Unterschied zu einer "normalen" Autobiographie - er sprach von sich selbst in der dritten Person, gab dem Menschen, der er gewesen war und auf den er zurückblickte, den Namen Anton Reiser. Vielleicht begriff Moritz instinktiv, dass die distanzierte Erzählform in der dritten Person eine größere Nähe zum eigenen Leben ermöglichen würde als die distanzlose Ich-Form. "
Die Tiefen der eigenen Erinnerung ausloten
"Anton Reiser" ist ein schonungslos grüblerisches Buch, das minutiös und mikroskopisch das Leben und die Gefühle seines Titelhelden aufzeichnet, aufs Feinste den eigenen Gedanken und Emotionen nachgeht und so aus der Erinnerung tatsächlich die Quellen und Ursprünge des eigenen Lebensentwurfs aufdeckt. Die frühesten Einflüsse und Eindrücke werden herausgearbeitet, nicht nur auf der gesellschaftlichen Ebene, sondern auch im feingesponnenen Netz der Gefühle. Mit seiner Tiefenlotung, Genauigkeit und merkwürdig "unliterarischen" Sprache ist dieser unheimlich ahnungsvolle Roman eines der großen Bücher des achtzehnten Jahrhunderts und von allen wahrscheinlich das modernste.
Sein Autor Karl Philipp Moritz war ein ungewöhnliches Individuum, mit allen Symptomen der Zerrissenheit und Selbstentfremdung, die bereits auf eine spätere Epoche vorausdeuten. Er war Essayist, Romancier, Reiseschriftsteller, Redakteur und Zeitschriftenherausgeber, Verfasser pädagogischer und psychologischer Abhandlungen, Altertumsforscher und Ästhetiker, Freund Goethes, Lehrer Alexander von Humboldts, Entdecker Jean Pauls und der frühen Romantiker Wackenroder und Tieck. Der epochale Rang seines Romans liegt in dem Umstand begründet, dass der Autor mit Bewusstsein und Methode sich selbst zum Fallbeispiel macht und die Technik der Kindheitsanalyse aufs Genaueste auf die eigene Lebensgeschichte anwendet.
Das geschieht nicht wie in einem Lehrbuch der Psychologie, sondern in der Form einer romanhaften Erzählung. Sie zieht den Leser in das Geschehen hinein und versetzt ihn, um einen späteren Ausdruck zu verwenden, in den Augenblick der "wahren Empfindung". Die Geschichte Anton Reisers ergreift uns als Fallgeschichte, weil sie neben aller Erkenntnis auch persönliche Identifikation ermöglicht. Georges-Arthur Goldschmidt schrieb:"'Anton Reiser', diese wunderbare, traurige, erschütternd-stärkende Geschichte, ist ein so besonderes Buch wegen der Erlebbarkeit des Erzählten, wegen seiner Plausibilität, und vor allem, weil das Erzählte genau beim jeweiligen Leser ansetzt."
Die Lobredner des "Anton Reiser"
Der Enthusiasmus für "Anton Reiser", der heute von vielen geteilt wird, wurde von einigen Lesern früherer Epochen vorweggenommen, etwa von Heinrich Heine und Friedrich Hebbel. Im zwanzigsten Jahrhundert war Arno Schmidt der eloquenteste Lobredner des "Anton Reiser", über den er in einem für ihn nicht untypischen Anfall von Kulturpatriotismus schrieb: "Man gehe uns doch mit den ausländischen 'großen Psychologen', Balzac oder Dostojewski, denen wir angeblich nichts Gleiches an die Seite zu stellen hätten: die Selbstbiographie des 'Anton Reiser' ist ein seelisches Hochland für sich".
Zuweilen wird Moritz’ Roman gegen Goethes "Wilhelm Meister" ausgespielt, der neben dem "Anton Reiser" künstlich und geradezu altbacken erscheine. Andererseits versäumt man selten, den Rang des Karl Philipp Moritz durch die Wertschätzung zu unterstreichen, die Goethe für ihn hatte. An Frau von Stein schrieb er im Dezember 1786 aus Rom: "Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin." Im nächsten Brief fügte er hinzu: "Lies doch 'Anton Reiser', das Buch ist mir in vielem Sinne wert."